Wir können sowieso nichts bewirken, oder?

Ganz gleich ob im Job oder privat. Wir haben oft das Gefühl machtlos zu sein, nichts bewirken zu können – getrieben von Entscheidungen und Machenschaften anderer.
Im Zustand gestalterischer Ohnmacht hadern wir mit ihrem Schicksal. Doch so ganz ausweglos wie es uns erscheit, ist es nicht, meint Bernd Kiesewetter.

Für viele Menschen ist es nicht vorstellbar, Einfluss auf von ihnen vermeintlich weit entfernte Teile des Lebens zu nehmen. Sie glauben, in vielerlei Hinsicht keine Macht und Möglichkeit zu haben. Sie wähnen sich im Zustand der gestalterischen Ohnmacht, lehnen dadurch die Verantwortung, die sie ja durchaus haben, bewusst oder unbewusst ab und hadern machtlos mit ihrem Schicksal.

Kennen Sie solche Menschen? Ich bin einigen davon begegnet. Diese Leute, die immer wieder beteuern, ihre Stimme hätte doch ohnehin kein Gewicht? Die deswegen nicht an Wahlen teilnehmen oder ihre Stimme auch anderweitig nicht erheben, sich niemals für etwas einsetzen und einfach resigniert schweigen. Eine solche Einstellung tritt oft in Verbindung mit der Klage auf, »die da oben machen doch sowieso, was sie wollen«. Und so werden von Wahl zu Wahl die Beteiligungen geringer, weil diese Menschen denken, sie könnten ohnehin nichts beeinflussen. Alle, die so handeln, nehmen ihre Verantwortung gegenüber ihrem Land, ihrer Gemeinde, ihrer Familie und vor allem sich selbst gegenüber nicht wahr!

Tatsächlich setzen sich Ergebnisse aber nun einmal aus allen Einzelstimmen zusammen, es gäbe gar kein Ergebnis ohne die Stimme des Einzelnen. Umso problematischer wird es folglich, je weniger Personen ihre Stimme abgeben. Denn die einzelne Stimme wird umso gewichtiger, je weniger Menschen abstimmen!

Wenn hundert Leute nach ihrer Meinung gefragt werden und neunzig ihre Wahl treffen, gibt es eine Entscheidung aus der Meinung von neunzig von hundert, also einer wirklichen Mehrheit. Wenn die Hälfte derer davon ein bestimmtes Ergebnis bevorzugen, gibt es immerhin fünfundvierzig Mal von hundert Mal diese Meinung, zuzüglich derer, die diese Meinung teilen, aber nicht abgestimmt haben. Haben aber nur noch zehn Leute gewählt und neunzig nicht entschieden, kann es sein, dass sich die Meinung einer absoluten Minderheit durchsetzt. Wenn hier wieder die Hälfte diesem Ergebnis zustimmt, könnten fünf Meinungen die Meinung fünfundneunzig anderer überstimmen! Normalerweise müssten nun die Betreffenden erst recht ihre Meinung kundtun, damit die anderen Einzelnen, zum Beispiel die da oben, nicht einfach bestimmen können.

Das Gegenteil ist der Fall, mehr und mehr Menschen geben ihr Recht auf Mitbestimmung ab und nehmen das ihnen angestammte und zustehende Wahlrecht nicht wahr. Brachliegende Verantwortung nenne ich das gerne.

Eine aufschlussreiche Dinner-Konversation

Glücklicherweise gibt es jedoch immer wieder Menschen, die ihre Verantwortung erkennen, wahrnehmen und leben; die Möglichkeiten sehen und weit über ihren persönlichen Bereich hinaus wirken. Da gibt es zum Beispiel Oliver Percovich. Wenn der Name Ihnen nicht auf Anhieb etwas sagt, muss Sie das nicht beunruhigen. Oliver Percovich ist Australier und besuchte im Jahre 2007 zum ersten Mal Afghanistan. Er stellte fest, dass dort Kinder und Jugendliche nur über geringe Möglichkeiten der Sport- und Freizeitgestaltung verfügen. Insbesondere Mädchen dürfen bis heute viele Sportarten gar nicht ausüben und sind auch sonst strengsten Regularien des Landes und der Kultur unterworfen. Percovich gab zunächst auf seinen drei mitgebrachten Brettern einigen Mädchen und Jungen informelle Skate-Lektionen, entwickelte aber daraus bald den Plan, eine Skateschule zu eröffnen. Er hatte die Idee, dass er Kinder und Jugendliche über die Skate-Lektionen erreichen und ihnen ein Gemeinschaftsgefühl vermitteln könnte. Er gründete eine Organisation und baute diese in den folgenden Jahren mit der Hilfe internationaler Spender und Partner aus. 2009 eröffnete er in Kabul eine Halle mit fast zweitausend Quadratmetern Fläche, in der die Schüler in einer sicheren Umgebung das Skaten lernen können. In ebenfalls in der Halle errichteten Klassenräumen stellt die Organisation auch weitere Bildungsangebote, wie zum Beispiel Computerkurse, zur Verfügung.

Skateistan ist heute eine anerkannte Nichtregierungsorganisation, die Kinder und Jugendliche von fünf bis siebzehn Jahren, vor allem Mädchen, aus verschiedenen ethnischen Gruppen und sozialen Schichten nicht nur in Afghanistan, sondern mittlerweile auch in Kambodscha und Südafrika zusammenbringt. Die Organisation bietet Skateboarding-Lektionen an, die den Kindern Selbstvertrauen geben und ihnen helfen, Grenzen zu überwinden. Daneben verfolgt die Organisation das Ziel, die Jugendlichen wieder zum Schulbesuch zu bewegen und ihre Ausbildung durch eigene Bildungsangebote zu unterstützen.

Gerne erzähle ich in meinem Freundes- und Bekanntenkreis diese Geschichte, die mich immer wieder sehr positiv berührt und motiviert. Nun gibt es aber auch zu dieser außergewöhnlichen und beeindruckenden Story tatsächlich unterschiedliche Reaktionen, wie ich immer wieder staunend bemerke. So auch kürzlich anlässlich einer Dinnereinladung bei Freunden. Frank, unser Gastgeber an diesem Abend, ist ein sehr weltoffener und kultivierter Unternehmer mit einer echten Vision. Er lauscht meiner Erzählung gebannt und am Ende der Geschichte liegt ein großes, echtes Strahlen auf seinem Gesicht, seine Augen leuchten. Eindeutig empfindet er – so wie ich – diese Schilderung als strahlende Erfolgsstory, die aus der absoluten Leidenschaft für eine Sache entstand und in Verbindung mit der Kraft für das Gute zu einem wertvollen gesellschaftlichen Beitrag wurde. »Das ist doch der positive Wahnsinn, diese Organisation in einem solchen Land in gerade einmal zehn Jahren aufzubauen! Da habe ich den absoluten und vollen Respekt vor dieser Idee und ihrer Umsetzung«, begeistert er sich. »Dieser Oliver, was für ein Vorbild ist er doch für alle, uns ebenso zu engagieren und etwas dazu beizutragen, das Leben dieser jungen Leute, vor allem der Mädchen, zu verbessern!« Egon am anderen Ende des Tisches hat mit skeptisch hochgezogenen Augenbrauen zugehört. »Warum willst du für die da unten in diesem fernen Land etwas bewirken? Warum können wir nicht lieber etwas für uns tun? Was gehen uns die Menschen in diesen Ländern an?«, fragt er jetzt aufgebracht. Frank betrachtet ihn lange, dann sagt er: »Weil wir eine Verantwortung haben.« Egon bekommt einen roten Kopf und antwortet, fast schon zornig: »Verantwortung, wieso? Für wen? Ich kenne da doch niemanden, da bin ich doch nicht verantwortlich. Die sollen sich dort selbst um ihr Leben kümmern, doch nicht wir«, ereifert er sich. »Weil diejenigen, die so viel mehr haben, an Weltoffenheit, Freiheit und auch an finanziellen Mitteln eben mehr geben müssen als andere. Da ist es mir nicht wichtig, ob ich diese Leute persönlich kenne, ich kann etwas für die Gemeinschaft, für das große Ganze bewirken, nur das zählt für mich. Da fühle ich mich verantwortlich«, erwidert Frank gelassen. »Was für ein Unsinn«, gibt Egon zurück. »Ich will erst mal selbst ein noch besseres Leben führen, etwas mehr Geld verdienen und würde gern auch wieder öfter verreisen. Das hat für mich absoluten Vorrang. Mit der Situation von irgendwelchen fremden Mädchen in fernen Ländern habe ich nichts zu tun. Das Leid der Welt geht mich wirklich nichts an!«

Jeder bekommt die passende Antwort

Ich habe diesem Dialog teilweise amüsiert, teilweise aber auch sehr betroffen gelauscht. Was für ein Abgrund, was für ein veritabler Grand Canyon liegt zwischen diesen beiden Sichtweisen. Nichts könnte den eklatanten Unterschied der verschiedenen Auffassungen rund um den Begriff Verantwortung besser illustrieren als die Konversation – oder besser gesagt der Schlagabtausch – zwischen Frank und Egon an jenem Abend. Das erklärt auch gleichzeitig die diffizile Aufgabe, Verantwortung allgemeingültig zu definieren. Hier herrschen derart differenzierte Meinungen vor, dass es nach meiner Auffassung niemals so richtig möglich sein wird, einen für alle Menschen zutreffenden Begriff der Verantwortung festzulegen. Es wird vermutlich immer die altruistischen Franks dieser Welt geben, die sich grundsätzlich verantwortlich fühlen und dies in ihren Taten auch eindeutig manifestieren. Genauso wird aber auch die Spezies der ego-orientierten Egons sicher nicht aussterben, die nur sich selbst und ihr eigenes kleines Leben im Blickwinkel haben. Das ist im Prinzip auch gar nicht so schlimm. Denn beide Typen von Menschen werden ihre ureigene Antwort auf ihr jeweiliges Verhalten erhalten. Und wenn diese Antworten für die Egons, die diesen Planeten bevölkern, immer unangenehmer und störender werden, dann kommt es mit der Zeit sicher zu einer neuen Sichtweise.

Trotzdem, viel zu viele Menschen denken noch immer wie Egon und betrachten zu viel Verantwortung als Fluch, als etwas zutiefst Negatives. Und das ist nicht gut! Denn Verantwortung – wenn sie richtig dosiert gelebt wird – ist etwas Wunderbares, sogar Erstrebenswertes. Verantwortung, so wie ich Sie verstehe, macht köstlich frei und damit unabhängig. Das mag für Sie jetzt paradox klingen, aber ich versichere Ihnen, es ist so! Wenn Sie sich Ihrer Verantwortung – und all den Herausforderungen, die sie mit sich bringt – in Ihrem Leben voll und ganz bewusst sind und sie offen, neugierig und verlässlich annehmen, werden sich Türen für Sie öffnen, von deren Existenz Sie bislang keine Ahnung hatten. Wie das funktioniert, sehen wir uns in den kommenden Kapiteln zusammen näher an.

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