Wie wir dem Einfluss der Meinungsmacher entkommen

Die Digitalisierung veränderte unsere Kommunikation radikal. Und nicht nur in punkto Geschwindigkeit. Sie schaffte neue Kommunikationskanäle, in denen sich nahezu jede Absurdität verbreitet und für sich die Meinungsführerschaft proklamiert. Quelle, Seriösität, Absicht und Motivation der Informanten bleiben aber weitgehend kaum überprüfbar. Wie kann man der Manipulationsmaschine entrinnen?

Digitalisierung, wie sie unsere Gegenwart und Zukunft prägt, bedeutet ein Mehr an Kommunikation und Information. Es sind Entwicklungen, die auch der Manipulation gänzlich neue Spielräume eröffnen. Das bedeutet beispielsweise: Postfaktisches wird das neue Faktum. Nahezu jede Abstrusität kann sich öffentlich Gehör verschaffen, Meinungsführerschaft proklamieren, Deutungshoheit beanspruchen. Die technologischen Möglichkeiten unterstützen, ja, fördern diesen Umstand noch. Überall und nahezu jederzeit komme ich mit Fakten und vermeidlichen Fakten in Berührung. Der entscheidende Krieg, wenn man so will, ist vielleicht künftig der um die Wahrheit. Anders gesagt – mit Blick auf die individuelle Entscheidungsbasis: Neue, zeitgemäße Orientierungsoptionen nehmen zu; beispielsweise neue Bewertungsmaßstäbe, etwa auf Community-Empfehlungen und Ähnlichem – und damit den Meinungsäußerungen überwiegend anonym-unbekannter Einzelner – basierend. Herkunft, Ausbildung, Kompetenz und ebenso Motivation und Absicht dieser »Ratgeber« und »Bewerter« kann dabei zumeist nicht mal ansatzweise geprüft werden.

Was transparent scheint, ist faktisch gegebenenfalls gänzlich intransparent, leistet gegebenenfalls der Unmündigkeit, der (fern-)gesteuerten Entscheidung, Vorschub: etwa die Empfehlungsmaschinerie auf der Basis von Entscheidungsassistenten und -algorithmen. Was hier im Zuge der momentan gravierenden Umbrüche tatsächlich wächst, ist vor allem das Manipulationspotenzial – auf unterschiedlichsten Ebenen. Es setzt an beim Einzelnen, bei seinen Möglichkeiten, unbeeinflusste, unabhängige Entscheidungen zu treffen. Und es setzt medial an bei den Vielen, den »Schwärmen«, den Massen. Wenn es jemals Massenmedien im strengen Wortsinn gab, dann heute und künftig. Und verschränkt mit der elementaren, unverzichtbaren Freiheit innerhalb einer Demokratie handelt es sich hier um zunehmend mächtige und wirkmächtige Instrumente.

Beobachter der gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozesse konstatieren eine Konzentration und damit abnehmende Pluralität auf dem Medienmarkt, und stellen besorgt die Frage, inwiefern man von demokratischer Willensbildung und demokratischer Entscheidungsfindung sprechen könne, wenn ökonomische und publizistische Macht zunehmend in der Hand weniger liegen, das kritische Bürgertum ebenso wie kritische Medien aufgerieben zu werden scheinen. Eine der Hauptaufgaben von Medien war es immer, ein Korrektiv gegenüber politischer und gegenüber ökonomischer Macht zu sein – durch Unabhängigkeit und entsprechend unabhängige Berichte. Demokratie erfordert eine hinreichende Vielfalt an eigenständigen Medien, die miteinander im Wettbewerb stehen; das ist eine strukturelle Voraussetzung (Voltmer 2000, 126).

Doch wie viel Medienvielfalt lassen wir denn selbst, als Einzelne, in unserem Alltag wirken? Wir befragen GoogleMaps, GoogleBooks, wir surfen bei der Frage nach einem Kochrezept ebenso wie beim Nachdenken über Berufsperspektiven auf den digitalen Erfahrungen der anderen, via Google, lassen uns dort das Restaurant zum Abendessen empfehlen auf eine Art, die mit Vielfalt kaum noch wirklich zu tun hat: So hat sich der Algorithmus hinter GoogleMaps 2013 ein klein wenig geändert – mit großer Auswirkung auf die Art und Weise, wie wir die (reale) Welt sehen. Denn bei der Anzeige einer Landkarte (und einer potenziellen Route) werden nun auf der Google-Karte nicht mehr jedem Nutzer dieselben Informationen präsentiert – und damit auch nicht mehr dieselbe Welt. In Abhängigkeit von den persönlichen Gewohnheiten (und den daraus antizipierten Vorlieben) werden bestimmte Informationen hervorgehoben oder auch nicht. Wenn der Google-Algorithmus also davon ausgeht, Sie essen lieber italienisch als indisch, so werden Sie in einer neuen Umgebung auch nicht auf den Gedanken kommen, indisch essen zu gehen, da Ihnen das Restaurant gar nicht erst angezeigt wird. Stattdessen erkunden Sie auch dort, wenn Sie Google folgen, ausschließlich die ortsansässigen Italiener (Seefeld 2013).

Die alttestamentarische Geschichte von Joseph, wie sie Thomas Mann in seinem Roman Joseph und seine Brüder nacherzählt: Eine israelische Familie; der von seinem Vater besonders geliebte Sohn Joseph ist seinen Brüdern ein Dorn im Auge. Bei geeigneter Gelegenheit rotten sie sich gegen ihn zusammen, wollen ihn töten und verkaufen ihn schließlich in die Sklaverei der Ägypter. Dort bekommt Joseph aufgrund seiner Intelligenz Aufstiegschancen, die er nutzt; er wird vom Pharao gefördert und geschätzt und rückt über die Jahrzehnte auf zum zweitmächtigsten Mann Ägyptens. Eine Dürreperiode in Israel führt die Brüder als Bittsteller nach Ägypten, zu Josef. Sie erkennen ihn nicht.

An dieser Geschichte ist einiges interessant, gerade auch zum Thema »Entscheidungsfindung«: Die Klarheit, mit der Joseph beispielsweise ausnahmslos sich selbst für seine Schritte verantwortlich macht – niemals »das Milieu«, »die Herkunft«, »die Familie«, »den Vater« oder »Gott«. Aus dieser klaren Selbstverantwortlichkeit heraus kann er dann auch seinen Brüdern, als sie als Bittsteller vor ihm stehen, freien Herzens begegnen; da ist keine Bitterkeit, die ihn vergällen würde. Was mich an der Geschichte beschäftigt, ist etwas anderes: die Spiegelung der Herausbildung und Verfestigung von kollektiven Emotionen. Thomas Manns Roman zeichnet das filigran und fassbar nach: Josephs Brüder sind zunehmend über seine Sonderbehandlung durch den Vater frustriert; zunächst ergehen sie sich in Andeutungen über ihre Gefühlslagen, geben ihrer Eifersucht und ihrem Zorn nur vorsichtig Ausdruck. Dann werden sie langsam deutlicher, und schließlich reicht ein geringer Anlass, um die Brüder dazu zu bewegen, über Joseph herzufallen und ihn schließlich an die Sklavenhändler zu verkaufen. Emotionale Ansteckung: Aggressisonsabfuhr und Irrationalität verdichten sich zu agierender Kollektivität.

Emotionale Ansteckung ist der Ratio, der Vernunft – vorsichtig gesagt – abträglich. Manch ein Fußballspiel gibt ein drastisches Beispiel dafür: Da ist die sportliche und vergleichsweise harmlose Variante, wenn sich eine Mannschaft so von einem Gegentor niederdrücken lässt, dass Kampfgeist und Spielstärke gänzlich daniederliegen. Da ist die wunderschöne Variante: Wenn eine Welle glückstaumelig-euphorischer Fangesänge durchs Stadion klingt. Und da ist manchmal auch eine beunruhigende Variante: gewalttätige Auseinandersetzungen. Oder wenn sich eine eigentlich friedlich demonstrierende Menschenmenge in einen pöbelnden Mob verwandelt, weil Wut und Erbitterung sich breit machen. Oder es zu Massenpanik und -hysterie kommt.

Grundsätzlich nehmen massenpsychologische Phänomene im Zuge hochgradiger massenmedialer Durchdringung der Gesellschaft – und darauf läuft der globale digitale Wandel wohl hinaus –, an Wahrscheinlichkeit wohl eher zu als ab. Und sie funktionieren beispielsweise im Normalfall in Richtung Verstärkung bereits vorhandener Ressentiments, und nicht in Richtung Aufklärung. Die Vernunft steht zwar nicht unbedingt auf verlorenem Posten – doch sie ist besonders gefordert. Urteilskraft, Unterscheidungsgabe, Umsicht – all das steht nicht unbedingt ganz weit oben auf der Agenda der Massenmedien und leider auch in unserer (Aus-)Bildung und ebenso dem gesellschaftlichen wie auch persönlichen Dialog. Im Gegenteil: »Boulevardisierung!« lautet die Devise, mit der Medien heute massenwirksam erfolgreich sind: plakativ, reißerisch, emotional, polarisierend, sprachlich möglichst schlicht.

Welches das Leitmedium im eigenen Leben ist beziehungsweise sein soll, ist heute eine Frage, die sich zu stellen man wohlberaten ist, angesichts der medialen Durchdringung jeder Sphäre des Alltags. Fernsehen, Radio, Tageszeitung – oder nur noch das Internet? Eine wichtige Frage ist, finde ich: Wo habe ich das Ausmaß meiner – bewussten und unbewussten – medialen Beeinflussung maximal selbst in der Hand? Wo kann ich selbst Einfluss nehmen darauf, welche Inhalte mich erreichen? Wo entscheide ich selbst über die informatorischen Prämissen meiner Entscheidungen? Ein wesentliches Element denkend aufgeklärter Partizipation in der Welt ist meines Erachtens: das Lesen. Viele Philosophen waren Leser und Sammler; in der ursprünglichen Wortbedeutung von »Lesen« fällt beides übrigens auch noch zusammen; die »Weinlese« ist ein überlebender Zeuge dieser Doppelbedeutung. So gesehen, wandert der denkende Mensch durch die verschiedenen Lektüren und Denkangebote, daraus unentwegt geistige Früchte sammelnd.

Eine Frage, die sich hier anschließt, ist: Wem vertrauen wir? Und ein Trend ist: eher der App auf dem Smartphone oder einem unbekannten Forum im Internet zu vertrauen als dem direkt gegenüber am Tisch sitzenden Menschen oder gar dem eigenen Denken. Und je näher die Antworten der digitalen Helfer in ihrer Repräsentation denjenigen von echten Menschen ähneln, desto mehr wird dies der Fall sein. Dabei bewegen wir uns – denn wir sind ja nicht naiv – in einer zunehmenden Ambivalenz. Einerseits wissen wir alle mittlerweile: Daten sind das Öl der Zukunft. Auch wenn wir es vielleicht nicht so formulieren würden; aber, dass wir im täglichen Smartphone- und Computergebrauch unsere Daten auf eine Weise aus der Hand geben, die nicht unbedingt in unserem Eigeninteresse liegt, ist vielen mittlerweile klar. Amazon, Google & Co. sind, platt gesagt, nicht die Caritas. Andererseits tun wir es, täglich, stündlich. Jeder von uns. Wir verschleudern unsere Daten, werfen mit intimsten Selbstauskünften um uns, als gäbe es kein Morgen. Diese Ambivalenz zeigt vielleicht mehr als jede andere, welche Herausforderung der digitale Wandel tatsächlich bedeutet – für jeden von uns.

Es mag sein, dass es in dieser Hinsicht schlicht auch keine einfache Lösung gibt – keine einfache Handlungsmaxime. Doch jeder von uns hat die Möglichkeit solcher (Daten-)Verschleuderung die eigene Zentrierung – Haltung und Standpunkt – entgegenzusetzen. Jeder kann im Dschungel von Meinungen, Postfaktischem und einer Empörungsmaschinerie kluges, eigenes Denken und Fragen sowie die eigene Urteils- sowie Unterscheidungsfähigkeit erhalten oder aufbauen.

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