Vielleicht die, auf die wir warten! Darüber nachzudenken, was wir als soziale Wesen, als »Herdentiere«, von anderen benötigen, um uns kennenzulernen, unsere Identität zu erfahren. Und was wir versäumen, wenn wir dieses uns evolutionär eingepflanztes Bedürfnis nicht befriedigen, diese Möglichkeit des persönlichen Wachstums nicht nutzen. Und wie kann Feedback konstruktives Miteinander und optimalere Arbeitsergebnisse bewirken?
Phänomen „Ich kann alles selbst“.
Ich erinnere mich an meine Klettergarten-Erfahrungen. Hier lernen die Teilnehmer, dass sie sich gegenseitig versichern, dass beide Karabiner am Seil gesichert sind, bevor sie die nächste Strecke in 20m Höhe gehen: A zu B: „Gesichert!“, B zu A:“ Ok, Go!“. Vorher darf keiner starten. Es fällt dabei vielen schwer, sich ihr Verhalten durch andere legitimieren zu lassen. Sie haben schließlich in den meisten Schulen und Ausbildungen gelernt, auf sich allein gestellt zu sein. Hilfe gilt in einer Leistungsgesellschaft oft als letzte Option.
Phänomen „Sag du mir, wer ich bin!“
Eine Klientin erzählte mir von ihrer Chefin, die sie immer wieder behindere, ihre eigenen Vertriebs-Strategien in ihrer neuen Position umzusetzen. „Eigentlich wollte sie gar nicht, dass ich diese Stelle bekomme“ war ihre Diagnose. Sie führte dazu einige aufgeschnappte Äußerungen von Kollegen an, konnte dies aber schlussendlich nicht belegen. So stritt sie sich immer wieder mit ihrer Vorgesetzten über Sachthemen. Sie schnitt das Thema „Nicht gewollt“ nur am Rande an, dass aber zynisch, was die Sachdiskussion noch mehr verzerrte. Ein Feedbackgespräch war ihr nicht möglich, „weil das eh nichts bringt. Die mag mich eben nicht!“ So versäumte sie zu Ungunsten einer konstruktiven Arbeitskultur eine Klärung ihrer Annahmen und Vorurteile.
Worauf wir warten.
Wer sind wir, wenn wir zuhören? Mike Kauschke beantwortet diese Frage so: “Vielleicht diejenigen, auf die wir warten.“ Er meint es vor allem poetisch-philosophisch. Und gleichzeitig sehe ich da Ansätze, die Chancen im Zuhören, Verstehen und Ganz-Werden im Alltag, auch im Business, zu nutzen.
Vielleicht können wir das Klettergarten-Beispiel als Metapher dafür nehmen, uns abzusichern, uns zu vergewissern, bevor wir eigenständig bzw. eigenmächtig Entscheidungen treffen. Und wir erleben das Gefühl, nicht allein zu sein, bestätigt zu werden oder miteinander bessere Ergebnisse zu erzielen. Vielleicht warten viele Menschen auch in Unternehmen darauf, in der Zusammenarbeit mit anderen auch eigenen Ideen zum Erfolg zu führen. Ohne Angst, kritisiert ausgegrenzt, verächtlich angeschaut zu werden und Fehler zu machen. Viele warten darauf, in ihren Kompetenzen, Stärken und Schwächen angenommen zu werden. Und insgeheim oft darauf, sich im sicheren Schutz der Kollegen auch weiterzuentwickeln, sich mit ihnen selbst besser kennenzulernen.
Und vielleicht wartet die Chefin von oben nur darauf, in ihrer Position angenommen zu werden, auch von meiner Klientin. Genauso wie diese darauf wartet, entsprechend als kompetent gesehen und in ihrer Arbeit wertgeschätzt zu werden. Wenn sich diese beiden Frauen zuhören könnten, wenn sie sich gegenseitig ihre Befindlichkeiten, Wünsche und Bedürfnisse mitteilen, würden sie viel über sich erfahren. Auch viele Gemeinsamkeiten, die im Streit miteinander um Positionen unerkannt und ungenutzt bleiben. So kann dann auch meine Klientin erfahren, dass auch sie in dem anerkannt wird, was ihr so wertvoll ist.
Feedback als Bindeglied – damit das Warten endet.
Das inzwischen in die Jahre gekommene Johari-Fenster der beiden amerikanischen Sozialpsychologen Jo Luft und Harry Ingram kann dieses Phänomen des Ganzwerden durch Hinhören gut beschreiben. Das, was wir von uns anderen gegenüber bewusst preisgeben, ist der öffentliche Raum. Viele Dinge behalten wir für uns, weil sie aus unserer Sicht „nicht an die Öffentlichkeit gehören“ bzw. „niemand etwas angehen“. Letzteres ist auch in bestimmten Umwelten gar nicht notwendig. Nur je mehr wir geheim halten, aus welchen Gründen auch immer, und je weniger wir von unserer Außenwirkung wissen, also uns gegenüber geheim gehalten wird, je größer ist unser Blinder Fleck. Im Falle der Klientin, mit der sie vermeintlich ablehnenden Chefin wäre es wichtig, diesen blinden Fleck zu würdigen und sich für die Situation aus der Fremdperspektive der Vorgesetzten zu öffnen. Um das Selbstbild zu ergänzen, zu vervollständigen.
Es geht um unseren Wesenskern
Im Grunde genommen warten wir alle darauf, in unserem Wesenskern erkannt und angenommen zu werden. Dazu habe ich auch in Bezug auf unsere Ängste im Juni geschrieben: Die Kunst, so zu sein, wie Sie sind. Jeder, der diese Schritte gegangen ist, hat Entlastung erfahren. Auf die Dauer ist es anstrengend und ungesund, eine schon meist in der Kindheit auferlegte Rolle zu spielen und zu verteidigen (. „Ich kann alles allein“; „Ich bin die Beste.“). Dahinter verbergen sich ungenutzte Ressourcen und Potenziale, die nicht gelebt werden durften, weil sie als „nicht richtig“ bewertet wurden.
Worauf wir warten – Schritte zum Zuhören
Sich selbst zuhören.
Allein schon die Aussage „die mag mich nicht“ ist geeignet, sich selbst zuzuhören: „Ist diese Annahme wirklich wahr und nicht nur ein Hirngespinst von mir, dass jede weitere Erforschung der wirklichen Meinung des anderen Menschen verhindert? Und kann es auch sein, dass auch ich die Chefin ablehne? Und warum?“ Wenn wir auf diese Art in uns hineinhören, können wir vielleicht schon viel von dem entdecken, was bisher im Alltagsleben, z.B. durch unsere Glaubenssätze und Konditionierungen (So und nicht anders muss die Welt, muss ich, müssen die anderen sein!), verschüttet war. Das ist der selbstreflektierende Weg, den blinden Fleck zu reduzieren.
Sich mit Wohlwollen annähern.
Wenn wir uns über andere ärgern, verlieren wir den klaren Blick auf diese Personen und die Situation, in der dieser Ärger ausgelöst wurde. Wenn wir allerdings den Mechanismus Reiz (Chefin sagt etwas) –Reaktion (ich empfinde Ablehnung) erkennen, können wir wieder Verantwortung für unsere Emotionen und Gedanken übernehmen. Es ist möglich, dem anderen ebenfalls zuzugestehen, dass er diesem Mechanismus unterliegt. Was hat ihn möglicherweise gereizt? Es wird möglich, über die Befindlichkeiten, Wünsche und Ängste des anderen nachzusinnen. Und darüber, welche Qualitäten er besitzt, die wir mögen. Diese Reflexion ist nur möglich, wenn wir den Ärger dissoziieren, mit unserer Fantasie in eine Außenposition bringen. Vera Birkenbihl hat außerdem dazu vorgeschlagen, eine Position zu visualisieren, die uns mit diesem Ärger von einer Position z.B. aus dem Weltall betrachten lässt. Dann relativieren wir dieses Gefühl, sind nicht mehr in seiner Macht.
Sich auf Feedback vorbereiten.
Jetzt geht es darum, die betreffende Situation neutral und mit einem absichtslosen Wohlwollen zu überprüfen. Sozusagen mit absichtsloser Absicht. Das bedeutet, dass wir uns darauf vorbereiten, offen zu sein für alles, was bei einem Gespräch passieren kann. Das einzige Ziel ist, mehr über sich zu erfahren. Erst danach entscheiden wir, welche Anteile von den Äußerungen der Gesprächspartner für uns stimmig sind. Ohne zu urteilen. Und dann hinterfragen wir: kann das genauso wahr sein, wie die eigenen Annahmen? Kenne ich diese Eindrücke schon aus anderen Situationen? Welchen Nutzen haben diese Äußerungen, was erzählen sie über mich? Und wie kann ich sie in mein Leben integrieren?
Nestwärme verleiht Flügel
Das Ergebnis kann sein, dass wir uns sicherer fühlen. Vielleicht haben wir zum ersten Mal das Gefühl, wirklich geborgen zu sein in dem Umfeld, in dem wir immer wieder mit persönlichen Herausforderungen konfrontiert sind. Vielleicht werden wir zum ersten Mal wirklich verstanden. Denn wenn auch manche Erkenntnisse aus dem Zuhören ungewohnt und deshalb auch schmerzlich sind, so entlastet die Tatsache, dass eine andere Person sich mitfühlend mit mir verbindet. Es entstehen plötzlich neue Perspektiven auf uns selbst und unser Miteinander. Rollen implizieren meistens, verteidigt werden zu müssen. Für die Entdeckung eines anderen Teils von uns können wir dankbar sein. Und uns auf dieser sicheren Basis auch neu erfinden.
Rainer Herlt ist Trainer, Coach, Berater und Autor. Sein Anliegen ist es, auf allen Ebenen des Unternehmens- und Berufsalltags persönliche Ressourcen (wieder) zu entdecken und damit Selbstwirksamkeit und- Eigenverantwortung aller Beteiligten nachhaltig zu stärken. Dazu entwickelte er ein besonderes Trainingskonzept auf der Basis des Zürcher Ressourcenmodells (ZRM), systemischer Formate und individueller Wertemuster. Sein Motto: Zu jedem wertschöpfendem Handeln gehört ein starkes positives Gefühl.