Unsere fünf psychologischen Grundbedürfnisse

Bevor sie weiterlesen, schauen Sie sich dieses Video an. Es stellt auf einzigartige Weise die Verbindung zwischen Emotionen und psychologischen Grundbedürfnissen dar.

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Das ist der Werbespot eines deutschen Telekommunikationsunternehmens. Der Sänger, um den es geht, ist der Brite Paul Potts. Ich zeige diesen Werbespot häufig bei Vorträgen und während Trainings. Damit verfolge ich zwei Ziele. Einerseits möchte ich im Raum Emotionen auslösen, darum geht es ja zentral in meiner Arbeit. Egal ob zehn oder dreihundert Personen an dem Vortrag teilnehmen, es ist so gut wie nie jemand dabei, der nicht auf diesen kurzen Film reagiert. Ich selbst, obwohl ich ihn sicherlich schon hundert Mal angeschaut habe, bekomme immer wieder aufs Neue Gänsehaut.

Außerdem kann ich mit diesem Film in sehr einfacher Weise die Verbindung zwischen Emotionen und psychologischen Grundbedürfnissen verdeutlichen: Wann immer Sie eine positive Emotion wie Freude, Glück oder Stolz empfinden, wurde oder wird gerade eines Ihrer psychologischen Grundbedürfnisse befriedigt. Umgekehrt ist es genauso. Verspüren Sie eine negative Emotion wie Ärger, Angst oder Traurigkeit, wurde oder wird eines Ihrer Grundbedürfnisse verletzt.

Es geht nicht um die physiologischen, körperlichen Bedürfnisse des Menschen, wie die nach Nahrung, Trinken oder Schlaf, sondern darum, was Menschen auf psychologischer Ebene benötigen, um ein glückliches und zufriedenes Leben zu führen. Es kommen dafür nur Bedürfnisse in Frage, die für alle Menschen weltweit gelten und deren Nichtbefriedigung, sei es nun durch ein einmaliges traumatisches Ereignis oder eine dauerhafte Verletzung, zu psychologischen Schäden und somit zu negativen emotionalen Zuständen führt.

Bei Depressionen oder einer anhaltenden Angst, wie ich sie im Vorwort beschrieben habe, befinden sich die Betroffenen in einem andauernden negativen emotionalen Zustand und versuchen, negativ empfundene Gefühle durch ihr Verhalten möglichst abzuwenden, zu reduzieren. Wer panische Angst vor etwas hat, dem erscheint es attraktiver, zu Hause zu bleiben, um diesem Etwas zu entgehen, auch wenn er auf logischer Ebene weiß, dass dies keine dauerhafte Lösung sein kann. Die wenigsten Menschen können auf Anhieb diese psychologischen Bedürfnisse, die alle Individuen in mehr oder weniger ausgeprägter Form gemeinsam haben, benennen. Allein diese Feststellung ist schon erstaunlich, bedenkt man, wie zentral sie für das Glück und Unglück von Menschen sind. Ich fordere jetzt nicht gleich ein neues Schulfach, aber den Grundbedürfnissen des Menschen sollten aus meiner Sicht doch mehrere Unterrichtsstunden gewidmet werden. Nutzt man die sogenannte Schwarmintelligenz einer Gruppe von vielleicht zehn Personen (etwa bei Trainings und Workshops), bekommt man die fünf psychologischen Grundbedürfnisse relativ leicht zusammen. Vielleicht mögen Sie an dieser Stelle selbst einmal über folgende Frage nachdenken (und sich dazu einige Notizen machen):

Was benötige ich, um wirklich glücklich und zufrieden zu sein? Wahrscheinlich haben Sie an den einen oder anderen der folgenden Punkte gedacht:

  • Ich benötige Liebe und enge Kontakte zu anderen Menschen.
  • Ich möchte Wertschätzung erfahren.
  • Ich benötige Spaß und Freude in meinem Leben.
  • Ich brauche ein Ziel, etwas, worauf ich mich ausrichten kann.
  • Ich möchte, dass mein Leben einen Sinn ergibt, dass Dinge in sich stimmig sind.
  • Ich benötige ein Gefühl der Sicherheit, der Kontrolle über mein Leben.
  • Ich brauche meinen Glauben an Gott oder Spiritualität.

Diese Aspekte werden immer wieder genannt. Grawe hat genau diese Bedürfnisse, aber mit anderen Worten, auf der Basis wissenschaftlicher Studien herausgearbeitet, nämlich:

  • Das Bedürfnis nach Bindung,
  • das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle,
  • das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung,
  • das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz und
  • das Bedürfnis nach Kohärenz, Stimmigkeit.

Diese fünf Bedürfnisse sind zentral für das Verständnis von emotionaler Führung.

Das Bedürfnis nach Bindung

Wir Menschen sind soziale Wesen, Herdentiere. Wir benötigen enge Kontakte zu anderen, zu unseren Freunden, unseren Familien, Partnern und Kindern. Es geht hier nicht um die Hunderte von Facebook-, Xing- oder LinkedIn-Kontakten. Sondern um die wenigen, wirklich engen Bezugspersonen, mit denen wir die schönen, aber auch die schweren Momente in unserem Leben teilen. Bei denen wir Schutz und Trost finden und die wiederum bei uns Schutz und Trost suchen, wenn ihnen das Leben einmal übel mitspielt.

Gibt man einem Säugling Nahrung, Schlaf und Schutz, also alles, was die physiologischen Grundbedürfnisse befriedigt, verweigert ihm aber gleichzeitig jegliche Zuwendung, indem man nicht mit ihm spricht, ihn nicht berührt und nicht tröstet, wenn er Angst oder Schmerzen hat, wird der Säugling schwerste Schäden davontragen. Diese äußern sich zum Beispiel in einem stark gestörten Sozialverhalten und der Unfähigkeit, als Erwachsener, insbesondere aufgrund mangelnder Empathie, selbst Kinder adäquat großzuziehen. Man bezeichnet das als Deprivationssyndrom oder psychische Deprivation, und in dem Namen steckt auch schon das Entscheidende: Das Kind bekommt etwas Essenzielles nicht, es erfährt eine Deprivation, also fehlende Zuwendung. Dieses Phänomen, das in unserer westlichen Welt zum Glück immer seltener beobachtet wird, findet sich vor allem bei Kindern, die in Heimen groß werden. Etwa in den rumänischen Unterbringungseinrichtungen, so muss man diese wohl nennen, zu Zeiten des Ceausescu-Regimes. Damals erhielten die Kinder zwar Schutz, in Form eines Daches über dem Kopf, und so viel Nahrung, dass es einigermaßen zum Überleben reichte. Sie erfuhren aber keinerlei Zuwendung durch das Betreuungspersonal, was zu massiven Störungen bei den Kindern führte. Die Wissenschaft zeigt uns, dass dies auch nicht durch die Zuwendung Gleichaltriger kompensiert werden kann.

Das Bedürfnis nach Bindung ist von so großer Bedeutung, dass vergleichbare Phänomene auch bei Erwachsenen, zum Beispiel alten Menschen, die lieblos in Heimen gepflegt werden, beobachtet werden können. Auch ihnen fehlt es an persönlicher Zuwendung und an Körperkontakt.

Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle

Vielleicht kennen Sie diese zwei Situationen: Sie stehen in einem Raum, den Sie gerade betreten haben, wissen, dass Sie dort etwas holen wollen, können sich aber partout nicht daran erinnern, was es eigentlich war. Oder Sie sind mitten in einer Erzählung, wussten eben noch genau, was Sie sagen wollten, und plötzlich überkommt Sie dieses mulmige Gefühl, vergessen zu haben, was Sie eigentlich mitteilen wollten, und dies auch gleich zugeben zu müssen.

Die Mehrzahl der Menschen hat schon einmal die eine und/oder die andere Situation erlebt. Sie sind mit wahrlich unschönen Gefühlen verbunden und vielleicht fühlt es sich so ähnlich an, wenn man an Alzheimer erkrankt. Man verliert in solchen Momenten die Orientierung und auch die Kontrolle über sich und die Situation. Menschen möchten Orientierung haben und Kontrolle über sich und ihr Leben ausüben. Bei einer Naturkatastrophe, einer Vergewaltigung, einer Entführung, bei einer Kündigung, aber auch »kleinen« Ereignissen, wie den eben beschriebenen, wird genau dieses menschliche Bedürfnis verletzt und es kommt zu den seelischen Schmerzen, die wir dann empfinden.

Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung

Dieses Bedürfnis ist zweifelsohne das offensichtlichste von allen. Mögen einige Menschen auch daran zweifeln, dass man enge Bindungen oder Kontrolle und Orientierung im Leben benötigt: Man wird kaum jemanden finden, der daran zweifelt, dass es schön ist, Spaß und Freude zu erleben, und dass Menschen versuchen, Unlust, wie sie zum Beispiel bei Langeweile oder bei einem Zahnarztbesuch entsteht, nach Möglichkeit zu vermeiden.

Doch Achtung, es gilt hier ein Missverständnis auszuräumen: Positive Gefühle sind zwar sehr angenehm, aber sie erfüllen, außer bezogen auf das Bedürfnis nach Lustgewinn, keinen Selbstzweck. Wenngleich es schön ist, Glück, Liebe oder Stolz zu empfinden, und wir diese Gefühle auch benötigen, ist es nicht der eigentliche Grund unseres Handelns bzw. sollte er es nicht sein. Zentral ist vielmehr, unsere Grundbedürfnisse zubefriedigen bzw. diese zu schützen. Tun wir dies in einer akkuraten, also weder über- noch untertriebenen Art und Weise, werden wir mit positiven Gefühlen belohnt, tun wir es nicht oder verletzt eine externe Quelle unsere Bedürfnisse, wird uns das durch negative Gefühle signalisiert.

Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz

Dieses Bedürfnis sticht, ebenso wie das nach Kohärenz, unter den anderen heraus. Nicht, weil es wichtiger wäre, sondern weil es uns Menschen, anders als die anderen Bedürfnisse, ganz eigen ist. Um ein Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz zu haben, »benötigen« wir erst einmal ein Selbst. Wir müssen also in der Lage sein, uns als eigenständige Wesen wahrzunehmen. Wir nennen dies in der Psychologie die Fähigkeit zum reflexiven Denken und diese haben eben nur wir Menschen.

Das Bedürfnis nach Kohärenz

Wenn ein Ungleichgewicht herrscht und Dinge einfach nicht zusammenpassen, möchten wir das möglichst rasch beenden, wir bevorzugen den Zustand der Kohärenz, des Gleichgewichts, und streben danach. Auch hier eignet sich wieder der Vergleich mit einem körperlichen Phänomen. Wenn ein Mensch zu schnell aus der Hocke aufsteht und sein Blutdruck gerade etwas niedrig ist, wird er einen leichten Schwindel erleben und wahrscheinlich das Gleichgewicht, die Balance, verlieren. Die Mehrzahl der Menschen empfindet einen solchen Schwindel als unangenehm und ergreift sofort Maßnahmen, um ihn zu beenden. Man setzt sich hin, hält sich fest, atmet ein paar Mal tief durch, isst etwas oder sucht vielleicht sogar einen Arzt auf, wenn einen der Zustand besonders stark beunruhigt.

Auf psychologischer Ebene entsteht ein solcher Zustand des Ungleichgewichts, der Inkohärenz, wenn unsere psychologischen Bedürfnisse nicht befriedigt oder angegriffen werden. Dies kann durch einen Einfluss von außen geschehen oder wenn man selbst es versäumt, ein Bedürfnis zu befriedigen. Wird jemandem zum Beispiel von einem Tag auf den anderen eine fristlose Kündigung vorgelegt, so wird sein Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle in Mitleidenschaft gezogen.

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