„Sie haben ja keine Ahnung!“ sagte der Marketingleiter zu seiner Angestellten, einer Produktmanagerin. Sie hatte bezüglich der angekündigten Relaunch-Kampagne eines Artikels andere Vorstellungen und Verbesserungsvorschläge geäußert. Die Umsetzung hätte den bisherigen Plan des Chefs durchkreuzt und eine geringfügige Umstrukturierung der Vertriebskanäle erfordert. Als sachliche Argumente nicht mehr ausreichten, um die unterschiedlichen Positionen zu untermauern, fiel dieser Satz. Boing!
Verbale Schlachten
Ein Angriff? So hat es die Mitarbeiterin empfunden. Oder Ausdruck von Hilflosigkeit des Leiters? Hatte er selbst „keine Ahnung“ davon, was vor sich ging bzw. welche Möglichkeiten der neue Vorschlag beinhaltete? Wie auch immer. Keiner kann in die Köpfe des anderen hineinschauen. Das Pingpong-Spiel um falsch oder richtig, besser oder schlechter ist zu genüge bekannt und führt in der Regel zu keinem Ergebnis, sondern oft sogar zu diesen Verurteilungen und Abwertungen.
Der Mitarbeiterin bleiben aufgrund des empfundenen Angriffs gewohnheitsmäßig entweder die Abwehr bzw. der Gegenangriff oder die Flucht bzw. der innerliche Rückzug. Beide Stressreaktionen lösen ein Anliegen nicht so, dass alle Beteiligten zufrieden sind.
Angriff auf die Person – ein konditionierter Fluch!
Der Grund: sie hat diese Äußerung persönlich genommen. Na klar, werden jetzt einige denken, sie war ja auch gemeint. Und genauso sind die meisten von uns auch konditioniert worden. Im Elternhaus, in der Schule und während des beruflichen Werdegangs. Wir werden als Objekte statt als menschliche Wesen wahrgenommen und entsprechend beurteilt. Wir werden gemessen, verglichen, bewertet. Je nach Bemessungsgrundlage und Erwartungshaltung unserer Bezugspersonen werden wir anerkannt und geliebt. Unser Selbstwert, die Grundlage unserer Persönlichkeit und Identität, richtet sich nach Kriterien, die andere für uns entworfen haben. Er steht und fällt, mit dem, was wir leisten, wie wir zu den Anforderungen „passen“. Anstatt uns selbst so zu nehmen, wie wir sind, überlassen wir es anderen Menschen, zu bestimmen, wie wir sein sollen. Wenn dann jemand unsere Leistung in Frage stellt, wie „Sie haben ja keine Ahnung!“, fühlen wir uns verletzt und fangen an -weil inzwischen „erwachsen“-, uns zu wehren. Das von anderen geschaffene Identitätsgebäude gerät ins Wanken. Sehr schnell geben wir die Schuld an unserem Unwohlsein dem anderen. Wir sind das Opfer!
Leben wie Marionetten!?
Im Grunde führen wir auf diese Weise ein Leben wie Marionetten. Die Produktmanagerin in unserem Beispiel gibt dem Marketingleiter die Fäden dazu selbst in die Hand, wenn sie sich nun dazu verleiten lässt, zu schweigen, zu schmollen oder zurückzuschlagen. Und in der Tat geben wir anderen die Macht über uns, wenn wir uns über sie ärgern oder auch Angst vor ihnen haben. Im Leben allgemein kann das fatale Folgen für die seelische und dann auch physische Gesundheit haben. Im Business ist dies außerdem deswegen destruktiv, weil Potenziale und Ressourcen, Motivation und Leidenschaft der Teams vernachlässigt und untergraben werden.
Emotionale Selbstverantwortung – ein Segen für Beziehungen.
Etwas persönlich nehmen
- raubt eine Menge Energie, die für eine lösungsorientierte Kommunikation wichtig wäre,
- lenkt unsere Konzentration auf Abwehr oder Angriff, satt auf die Sache,
- schafft Konfrontationen, die oft erst durch diese Wahrnehmung entstehen,
- schadet auf Dauer unserer Gesundheit, da Stresshormone ausgeschüttet werden,
- bedeutet, dass wir die Probleme des anderen übernehmen. Wollen wir das?
Welch eine innerliche Erleichterung und Entspannung für die Situation und die Beziehung wäre es, wenn die Dame selbst Verantwortung für ihre Gefühle und Reaktionen übernimmt. Wenn wir alle derartige Äußerungen als zu dem Sprechenden, dem Sender, gehörig verstehen. Denn so ist es doch: es sagt mehr über dessen Gedanken und Zustand aus als über den Empfänger. Dafür ist allein der Sender verantwortlich. Die Gefühle wie Wut, Trauer, Angst, Enttäuschung entstehen dagegen einig und allein bei uns selbst. Dafür sind wir verantwortlich.
Warum ist emotionale Selbstverantwortung so wichtig?
Zum einen: um zwischen Reaktion und Wirkung zu unterscheiden.
Ärger zeigt uns und anderen an, dass einer unserer Werte verletzt worden ist. Die Verletzung spüren wir. Sie ist eine Reaktion auf einen Reiz von außen, z.B. Worten und Gesten anderer. Bevor wir also gewohnheitsmäßig beleidigt, mit Rückzug oder Angriff reagieren und damit dem anderen die Schuld zuweisen, gilt es für unsere Gefühle die Verantwortung zu übernehmen. Erst dann kann aktuell oder später eine konstruktive Reaktion angemessen sein. Wir können uns dann überlegen, ob und wie wir darauf reagieren wollen. Ist die Äußerung von oben eine Projektion des Chefs (dazu mein Beitrag zu Projektionen ), also der Ausdruck seiner eigenen Befindlichkeit? Was triggert mich dabei und was davon möchte ich mitteilen?
Und außerdem: um uns wirksam unsere eigenen Bedürfnisse zu erfüllen.
Anstatt mit Flucht oder Verteidigung zu antworten können wir uns angewöhnen, uns unserer Bedürfnisse und Werte bewusst zu werden, die offensichtlich verletzt wurden. Dann erst ist so etwas wie konstruktive bzw. gewaltfreie Kommunikation möglich. Nur wenn wir innehalten und uns über unsere Gefühle akzeptieren, können wir unsere Situation und Befindlichkeit sachlich kommunizieren. Z.B. könnte die Produktmanagerin von oben in einer weniger gespannten Situation den Chef so oder ähnlich ansprechen: „Sie sagten zu mir ‚Sie haben keine Ahnung‘. Da habe ich mich geärgert und herabgesetzt gefühlt. Ich lege großen Wert auf einen rücksichtsvollen konstruktiven Umgang. Können wir darüber sprechen?“
In diesen Sätzen wurden nur Ich-Aussagen verwendet und keine Schuldzuweisungen formuliert. Natürlich ist dieses Wording keine Garantie für eine für beide Beteiligten optimale Lösung. Gleichzeitig schmälert es das Potenzial einer Täter-Opfer-Situation.
Letztendlich: um Konflikte zu vermeiden und zufriedener zu leben.
In dem Moment, in dem wir Verantwortung für unser eigenes Gefühlsportfolio übernehmen, können wir die in solchen Fällen meistens eingenommene Opferrolle verlassen. Selbst wenn der andere die Absicht hatte, uns dazu zu machen (also seine Verantwortung für seine verletzten Gefühle auf uns projiziert), können wir zwischen dieser und der Wirkung bei uns unterscheiden.
Wenn schon persönlich, dann richtig.
Wenn Sie etwas persönlich (verletzend) nehmen, dann überprüfen Sie, was Ihnen in solchen Momenten fehlt. Und forschen Sie nach Ihren Werten, die Ihnen dabei wichtig sind. Sie haben die Verantwortung dafür, dass sie gelebt werden. Wer sonst?
Und wenn Sie wollen, dass Ihre Umwelt aufhört, im Vorgarten Ihrer Werte herumzutrampeln, zeigen Sie ihr, wo Ihr Garten beginnt. Teilen Sie Ihren Ärger mit! Gehen Sie dabei kongruent und dosiert vor. Wenn Sie dies nicht tun, dann beklagen Sie sich nicht darüber, dass Ihr Wertesystem weiterhin verletzt wird (wo kein Zaun gezogen ist, kann jeder weiter herumlatschen). Dazu ist es wichtig, Ihr Wertesystem zu kennen.

Rainer Herlt ist Trainer, Coach, Berater und Autor. Sein Anliegen ist es, auf allen Ebenen des Unternehmens- und Berufsalltags persönliche Ressourcen (wieder) zu entdecken und damit Selbstwirksamkeit und- Eigenverantwortung aller Beteiligten nachhaltig zu stärken. Dazu entwickelte er ein besonderes Trainingskonzept auf der Basis des Zürcher Ressourcenmodells (ZRM), systemischer Formate und individueller Wertemuster. Sein Motto: Zu jedem wertschöpfendem Handeln gehört ein starkes positives Gefühl.