Mit wenigen Klicks gelangen wir an schier unvorstellbar viel Informationen, Computer nehmen uns das Denken ab, das Navi weist uns den Weg. So schön diese digitale Welt auch ist – sie birgt einige Gefahr: Während wir nach Wissen dürsten, ertrinken wir in der Informationsflut. Unser analoges Gehirn befindet sich in einer permanenten Überforderungssituation. Doch wie können wir damit umgehen?
Wir führen interkontinentale Gespräche per Smartphone, wir mailen was das Zeug hält und tauschen Nachrichten über SMS, Facetime oder Skype aus. Texte übersetzen wir mit Übersetzungsprogrammen. Statt Lexika zu durchforsten, schauen wir in Wikipedia nach. Filme streamen wir, wann immer wir wollen, bei digitalen Anbietern. Lernen gelingt mit You Tube Turorials. Den Weg weist das Navi, Kochrezepte holen wir aus dem Netz und unseren Partner suchen wir in digitalen Partnerbörsen – links attraktiv und rechts weg.
Einst lebten wir auf dem Land, dann in Städten und von jetzt an im Netz.
Mark Zuckerberg, 1984
Keine Frage: die digitale Welt ist leistungsfähiger, einfach zu bedienen und effizient. Jedermann findet im World Wide Web zu jeder Zeit eine Menge an Informationen.
So begrüßenswert diese Errungenschaften sind, so offenbaren sie auch Probleme. Das Internet ist vollgestopft mit Informationen und die unglaubliche Menge der verfügbaren Angebote wirkt für viele Zeitgenosse bedrohlich. Wir dürsten nach Wissen und ertrinken in einer Informationsflut.
Viele „User“ befinden sich permanent in einem Zustand der Überforderung. Für die schier grenzenlosen Umwälzungen, welche mittlerweile in nahezu alle Lebensbereiche vorgedrungen sind, zahlen wir einen hohen Preis: Immer mehr Menschen klagen über Abgeschlagenheit, gesundheitliche Beeinträchtigungen und psychologischen Erkrankungen.
Warum? Mit der atemberaubenden Dynamik der technischen Entwicklung können viele nicht mehr mithalten.
Sind wir für eine digitale Umgebung geeignet?
Wir müssen uns die Frage stellen, ob der Mensch überhaupt mit passenden Fertigkeiten ausgestattet ist, um in dieser digitalen Umgebung zu überleben. Ist unser Gehirn vorbereitet, sich an die moderne Internetwelt anzupassen? Kann unser Gehirn den heutigen Ansprüchen genügen?
Der moderne Mensch, also der Homo sapiens, besitzt ein Gehirn, das vor etwa 40.000 Jahren entstanden ist. Unsere Spezies hat es bis zur Spitze der Nahrungskette geschafft. Wie das? Er lebte in Gruppen von 20 bis 50 Personen und wurde im Laufe der Evolution mit einem biologischen Verhaltensinventar ausgestattet, welches vor allem einen entscheidenden Vorteil hatte: Die Gruppenzusammengehörigkeit. Nur in der Gruppe konnte man die Widrigkeiten des Lebens überstehen. Die Verständigung erfolgte in permanentem Kontakt von Angesicht zu Angesicht (heute würden wir sagen von „face-to-face“), verbal, körpersprachlich, mit Mimik und Gestik.
Unser Gehirn wurde nicht konstruiert, um den heutigen Ansprüchen zu genügen. Oder, wie es der Geschichtswissenschaftler Ronald Wright treffend formuliert hat: „Wir benutzen die Software des 21. Jahrhunderts auf einer Hardware, die zum letzten Mal vor 50 000 Jahren aufgerüstet wurde“.
Obwohl unser Denkorgan ausgesprochen wandlungsfähig ist, befindet sich unter unserer Schädeldecke immer noch der »biologische Fingerabdruck« der Urzeit. Unsere Spezies hat völlig neue Handlungsoptionen aufgebaut, welche das steinzeitliche Verhaltensrepertoire deutlich übertreffen. Mit atemberaubender Dynamik wurden Techniken entwickelt, welche unser Gesellschaftsleben zum Teil nachhaltig beeinflussen. Das menschliche Gehirn wurde mit neuen Anforderungen konfrontiert, auf die es biologisch in den vergangenen tausenden von Jahren nicht vorbereitet worden ist.
Wir verwenden Kommunikationsinstrumente, welche begrüßenswerte und nutzbringende neue Kontaktmöglichkeiten eröffnen. Wir können zeit- und ortsunabhängig kommunizieren, das World Wide Web gehört mittlerweile zu unserem Leben wie essen und trinken. Wir treten allerdings mit Menschen in Kontakt, die wir häufig gar nicht persönlich kennen oder zumindest nicht während des digitalen Kontaktes sehen können.
Empathie und Mitgefühl, menschliche Eigenschaften, welche für ein gutes Zusammenleben wichtig sind, haben heutzutage abgenommen. Die Anonymität des Internets fördert die Verminderung von Respekt und Vertrauen. Es mangelt an persönlichen Kontakten. Ein „Like“ ist kein Freundesbeweis. Der Neurowissenschaftler Prof. Dr. Gerhard Roth betont, dass digitale Kontakte in vielerlei Hinsicht zu einer Verarmung führen, weil die Vertrauensebene „online“ nicht herzustellen ist. Es fehle der wichtige menschliche Faktor: die Bindung.
Sind wir überhaupt digitaltauglich?
Der Mensch, so anpassungsfähig er ist, kann sich an vieles gewöhnen. Gilt das auch für die Internetwelt? Der Neuropsychologe Lutz Jäncke schreibt in seinem Buch „Von der Steinzeit ins Internet – Der analoge Mensch in der digitalen Welt“, dass menschliche Kontakte überlebenswichtig und in unserem Gehirn fest verankert sind. Von daher empfiehlt er, Sozialkontakte mit Menschen zu pflegen, bewusst Zeiten festzulegen, in denen wir uns nicht von digitalen Angeboten treiben lassen. Das ist aufwendig und nicht leicht. Aber mit einer gehörigen Portion Selbstdisziplin kann das gelingen. Wir sollten lernen, Wichtiges von Belanglosem zu unterscheiden, ein gedrucktes Buch zu lesen, kulturelle Veranstaltungen zu besuchen und uns in Gesellschaft aufzuhalten. Wir sind keine Sklaven digitaler Reize. Genießen Sie analoge Erfahrungen, sie sind für unseren Körper und unser Gehirn lebensnotwendig!
Michael Kühl-Lenjer verknüpft langjährige Vertriebs-, Führungs- und Trainingserfahrungen mit aktuellen Erkenntnissen der Gehirnforschung. Als Business-Trainer und Kommunikationsberater unterstützt er Unternehmen und Ausbildungsinstitute dabei, neurowissenschaftliche Aspekte in ihre Aus- und Weiterbildung einfließen zu lassen. Michael Kühl-Lenjer ist Mitglied in der Akademie für neurowissenschaftliches Bildungsmanagement (AFNB) und bezieht seine neurobiologischen Kenntnisse direkt von Wissenschaftlern.