Ich nicht!

“Ich nicht!” Wann haben wir das letzte Mal so gedacht und gehandelt? Wir neigen schnell dazu, uns aus der Verantwortung zu stehlen. Aber warum ist das so? Warum ist Verantwortung für uns so negativ besetzt? Eine Spurensuche …

Die Scheu vor der Verantwortung ist eine Krankheit unserer Zeit

Fürst von Bismarck (1815–1898)

Die Problematik rund um das Thema Verantwortung gibt es also schon etwas länger. Der Eiserne Kanzler nannte nicht angenommene Verantwortung sogar eine Krankheit. Ich kann ihm da nur aus voller Überzeugung beipflichten. Denn die Scheu und das ängstliche Zurückschrecken vor der Verantwortung machen über kurz oder lang unglücklich und krank, davon bin ich fest überzeugt.

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Warum reagieren so viele Menschen mit einem achselzuckenden »Was geht es mich an?«, oder auch »Ich bin da doch nicht zuständig«, wenn sie mit dem Thema Verantwortung konfrontiert werden? Warum fühlen sie sich sofort negativ berührt und gar nicht zuständig? Warum stellen sie ihren Teil der Verantwortung grundsätzlich infrage? Oder lehnen ihn sofort beinhart ab?

Ich gehe als grundlegend positiv gestimmter Mensch einmal davon aus, dass die Ablehnung von Verantwortung nur in den seltensten Fällen einen böswilligen Hintergrund hat. Diese sofortigen Abwehrmechanismen sind in meinen Augen in den allermeisten Fällen nur eine Art und Weise, die eigene gefühlte Machtlosigkeit eines Menschen zum Ausdruck zu bringen. Wer sich machtlos fühlt, meint, er kann sowieso nichts erreichen. Und wer so denkt, lehnt die Zuständigkeit lieber gleich von vornherein ab. Dafür gibt es meiner Meinung nach – in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit – diese vier möglichen Gründe:

  1. Bequemlichkeit
  2. Unkenntnis
  3. Dummheit
  4. zu Recht

Bequemlichkeit

Ich wage zu behaupten, dass Bequemlichkeit in mehr als neunzig Prozent aller Fälle die wahre Ursache von nicht oder nicht ausreichend übernommener Verantwortung ist. Hier gibt es fließende Grenzen von einfacher Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit, über die echte Überforderung bis hin zum übelsten, bewusst eingesetzten und puren Egoismus.

Unkenntnis

Genauso wie Unwissenheit nicht vor Strafe schützen kann, so kann Unkenntnis nicht als Ausrede für Verantwortungslosigkeit dienen. Wir leben in einer Zeit, in der Wissen und Informationen so einfach, schnell und zumeist völlig kostenfrei zugänglich sind, wie es dies noch niemals zuvor gegeben hat. Die Möglichkeiten, sich zu informieren und sich mehr Wissen zu einem bestimmten Thema anzueignen, sind schier grenzenlos. Nehmen wir dieses Angebot nicht wahr, landen wir ebenfalls wieder bei der schon erwähnten Bequemlichkeit.

Dummheit

Ich gehe davon aus, dass nur die allerwenigsten Menschen über zu wenig Klugheit verfügen, um die wahren Zusammenhänge einer Situation zu verstehen. Die meisten Leute machen sich einfach nicht die Mühe, gewisse Prozesse weiter oder gar zu Ende zu denken. Das hat jedoch nichts mit Dummheit zu tun, sondern geht wieder in Richtung geistiger Bequemlichkeit. Insofern erlaube ich mir, auf diese kleine Randgruppe »dumm« nicht näher einzugehen, zumal wir auf sie ohnehin kaum Einflussmöglichkeiten haben. Wie wollen Sie Regularien für Dumme schaffen und umsetzen? Strenge Gesetze und strikte Vorgaben aller Art wären zwar eine Möglichkeit, doch keine Vorschrift dieser Welt wird echte Dummheit verhindern können – und somit wäre deren Einhaltung sowieso nicht gewährleistet.

Zu Recht

Das ist sicherlich einer der interessantesten Punkte, weil er generell noch viel zu wenig Beachtung und Akzeptanz findet. Manches Mal ist es eindeutig erforderlich, unsere Zuständigkeit für diese oder jene Verantwortung glasklar abzulehnen. Wir werden alle immer wieder mit einer gewissen Machtlosigkeit oder Handlungsohnmacht konfrontiert, die wir nur akzeptieren können. Die darauf folgende Ablehnung geschieht völlig zu Recht.

Wann sind wir nicht verantwortlich?

Das bringt uns zu einer wichtigen Frage: Wann müssen wir Verantwortung ablehnen, und wann geschieht dies völlig zu Recht? Nehmen wir einmal ein direktes Beispiel, um Interpretations-Missverständnisse zu vermeiden: Wenn Ihr Vater Sie dafür verantwortlich macht, dass er sein Leben nicht so frei und unabhängig führen konnte, wie er es sich nachträglich wünscht, dann müssen Sie die Verantwortung nicht nur ablehnen, sondern dann haben Sie schlichtweg absolut nichts damit zu tun! In diesen Entscheidungsprozess mit all seinen Folgen und Verantwortungen waren Sie ja nicht mit eingebunden. Oder, wenn die Bundesregierung eine nicht öffentlich ersichtliche Entscheidung trifft, dann sind Sie zwar mittelbar mitverantwortlich an der Regierungsbildung, doch erstens war bereits hier Ihre persönliche Verantwortung überschaubar und zweitens manchmal auch nicht vorhersehbar. Sie sind nicht für jedes politische Dilemma verantwortlich!

Verantwortung beginnt bei kleinen Dingen

Auch ein Bitte und Danke, etwas Achtung, Respekt und gutes Benehmen sind bereits gute Ansätze für ein verantwortliches Miteinander, die leider zunehmend verloren zu gehen scheinen, aber uns doch alle angehen.

Sehr vielen Menschen fällt es in ihrem auf sich selbst fokussierten Alltag gar nicht auf, wenn sie sich einer Situation, in der sie eigentlich Verantwortung übernehmen sollten, dieser gleichgültig entziehen. Das kann schon damit beginnen, dass eine gebrechliche ältere Dame in einem vollen Bus keinen Sitzplatz bekommt und niemand sich erhebt und ihr einen Platz anbietet. Das läuft dann meist so ab: Die sitzenden Personen wenden peinlich berührt den Blick ab, schauen nach unten, aus dem Fenster oder starren angestrengt in ihr Smartphone, in der Hoffnung, man würde glauben, sie hätten die Dame nicht bemerkt. Alle Businsassen hegen jetzt den gemeinsamen inneren Wunsch, es würde einen anderen treffen. Sie rechtfertigen ihr Nicht-Handeln dann mit Gedankensplittern wie »Schließlich habe ich ja selbst schon den ganzen Tag gestanden.« Oder aber: »Ich muss ja nach dem Aussteigen noch einen weiten Fußweg zurücklegen und meine Tasche ist so schwer«. »Es wird schon jemand anderes aufstehen, jemand, der jünger ist oder heute noch nicht so viel gearbeitet hat.« Während sich die Menschen im Bus mit diesen und ähnlichen Gedanken selbst beruhigen und aus der Situation nehmen, ist die alte Dame entweder schon umgefallen oder bereits wieder ausgestiegen. Das wirklich Schlimme daran ist ja nicht, dass sie keinen Platz bekam – was sicher auch grob unhöflich ist – sondern vor allem die Tatsache, dass sich alle diese Mitfahrenden gar nicht bewusst sind, einem klaren Akt der Verantwortung brutal und egozentrisch den Rücken zugekehrt zu haben. Hier trifft der Verweigerungsgrund Bequemlichkeit in voller Wucht zu!

Eine Tür als Symbol von gelebter Verantwortung

Eine aufgehaltene Tür ist ebenfalls ein anschauliches Beispiel. Wer will schon verantworten, dass der dahinter Gehende eine Tür vor den Kopf bekommt? So mancher könnte aber auch so denken: »Was geht mich das an, der kann doch die Tür alleine aufmachen?!« Klar, er könnte sie auch selbst aufmachen. Aber rein physikalisch ist eine erhöhte Kraft notwendig, eine zufallende Tür zu öffnen, da sie erst einmal in ihrer Bewegung zu stoppen ist. Es wäre also nicht nur viel leichter, die Tür für den Folgenden aufzuhalten, sondern ganz nebenbei auch noch oft mit zahlreichen positiven Gefühlen für Sie selbst verbunden. Unsere Konzentration ist aber selten auf Rücksicht und gute Gefühle gerichtet. In einer Gesellschaft, in der scheinbar keiner mehr gern Türen und Griffe berührt, spielen sich zum Teil sehr lustige Bilder ab. Offenbar muss die Gefahr einer gefährlichen Ansteckung so groß sein, dass wir solche Flächen auf keinen Fall berühren wollen. So kommt es mir zusehends vor. Stellen Sie sich doch einmal zehn Minuten in ein Einkaufscenter und beobachten Sie die herein- und herausströmenden Massen. Da werden die Ellbogen genutzt, die Füße, Knie, Schultern und was weiß ich nicht alles, aber selten die Hände. Und wenn, dann auch niemals an den Handgriffen, sondern nur ganz oben oder ganz unten, wo sonst vermeintlich keiner zugreift. Stimmt nur leider nicht, weil vermutlich die wenigsten Berührungen am Handgriff selbst zu finden sind, da fast jeder so denkt. Hier treibt uns offenbar die Angst – vor welch schwerer Erkrankung auch immer – und hält uns von der Verantwortung für unseren guten Umgang mit anderen ab. Dass uns ein solches Verhalten auch gleichzeitig um unseren Lohn in Form von wunderschönen gegenseitigen Glücksgefühlen bringt, – ich habe für jemanden etwas getan, und der andere freut sich auch – vergessen die meisten Menschen dabei.

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