Wenn es zwischen Weltbild und Realität knallt

Wenn unser Paradigma an seine Grenzen stößt, wenn andere sich nicht an unsere Erwartungen halten wollen, dann wird es eng mit unserem friedlichen Weltbild. Wenn wir feststellen müssen, dass unsere Annahmen darüber, was gut und gerecht ist, verkehrt sind, dann werden wir wütend und aggressiv oder depressiv und selbstzerstörerisch. Gewalt ist eine Reaktion auf den Zusammenstoß unseres Weltbilds mit der Realität.

Die Vision der Gewaltfreien Kommunikation besteht in einem zweifachen Paradigmenwandel, einem individuellen und einem gesellschaftlichen. Der individuelle Wandel besteht in der radikalen Übernahme von Eigenverantwortung für die eigenen Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen. Auslöser und Ursache von Gefühlen werden in der Gewaltfreien Kommunikation klar getrennt. Der Auslöser von Gefühlen liegt im Außen, aber die Ursache von Gefühlen liegt zu einhundert Prozent in uns selbst. Die Gewaltfreie Kommunikation macht einen emotionalen U-Turn indem sie uns anleitet, die Verantwortung für unsere Innenwelt und unsere Handlungen vollständig zu übernehmen. Das klingt verständlicherweise fremd und ungewohnt. Wir haben alle gelernt, dass die anderen unsere Gefühle machen und das auch wir für die Gefühle anderer verantwortlich gemacht werden. Tatsächlich hat man uns dies früh beigebracht: »Mama ist traurig, wenn du nicht aufisst.«, »Papa wird wütend, wenn du nicht aufräumst.«, »Dein Lehrer ist enttäuscht, wenn du nicht lernst.«

In seinen Seminaren machte Rosenberg diesen Paradigmenwechsel in Rollenspielen deutlich. In einer Mischung aus Lehrgespräch und therapeutischer Begleitung konnte er so vielen Menschen neue Wege für die Verbesserung ihrer Beziehungen und Klärung alter Konflikte aufzeigen. Dabei nutzte er die Vier-Schritte-der-Gewaltfreien-Kommunikation immer wieder als Hilfsmittel, um damit den Paradigmenwandel von Du-bist-Schuld hin zu Ich-übernehme-Verantwortung deutlich zu machen.

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In einem Konflikt halten wir unsere Bewertungen meistens für die Wahrheit. Wie Herr S., der in einem Streit mit seiner Partnerin die Bewertung »Sie kritisiert mich ständig!« als eine Tatsache ansah. Rosenberg zeigte ihm, welchen Unterschied es macht, wenn er seine Beobachtung von den Bewertungen trennt und die Verantwortung dafür übernimmt. So erkannte Herr S., dass die tatsächliche Beobachtung, auf die er sich bezog, eigentlich lautete »Meine Partnerin hat an dem Abend zweimal eine Aussage von mir korrigiert.« Als Herr S. sich seine Gedanken und Bewertungen zu dieser Beobachtung in Erinnerung brachte, wurde ihm klar, dass die Kritik seiner Partnerin in ihm Erinnerungen an die Beziehung zu seinen sehr kritischen Eltern wachgerufen hat. Die Vermischung seiner Beobachtung mit diesen Erinnerungen führte Herrn S. schließlich zu seiner Behauptung »Sie kritisiert mich ständig«.

Wir können unsere Gedanken und Gefühle kaum kontrollieren. Unser Paradigma über die Entstehung von Gefühlen ist tief verankert. Aber wir können unsere negativen Gefühle, Bewertungen und Verhaltensweisen durch bewusste Arbeit an uns selbst verändern. Ein Paradigma wandelt sich durch stetige Bewusstseinsarbeit. Stichworte hierfür sind die Integration von Schattenseiten durch die empathische Selbstreflexion und die Biografiearbeit, auf die ich später noch ausführlicher eingehen werde.

Rosenberg wollte allerdings mehr, als den Menschen nur zu zeigen, wie sie besser für ihre Bedürfnisse sorgen und ihre Beziehungen verbessern können. Das war ihm auch wichtig, aber er hat erkannt, dass es nicht nur individuelle Ursachen sind, die uns von unseren Bedürfnissen entfremden. Die Menschen verlernen den Kontakt zu sich durch eine Sozialisierung, die es mit Konformität, Gehorsam und Autoritätsgläubigkeit übertreibt. In vielen Institutionen geht es nicht um individuelle Bedürfnisse, sondern das Individuum hat nach den Regeln und Anforderungen der Einrichtung zu funktionieren. Das wird uns in der Schule beigebracht, zieht sich durch die Ausbildung und geht dann am Arbeitsplatz weiter. Die Einordnung des Individuums in eine gemeinschaftliche Aufgabe ist in vernünftigem Ausmaß natürlich notwendig. Menschen sind bereit, ihre Freiheit sinnbringend einzuschränken, aber dafür ist eine gesunde Balance von Rechten und Pflichten notwendig. Völlige Autonomie und Freiheit sind eine Illusion. Aber wie wir heute feststellen, haben wir es mit der Unterdrückung von Individualität und Autonomie in vielen Bereichen übertrieben.

Marshall Rosenberg wollte auch diese Themen in seine Arbeit einfließen lassen. Das ist der gesellschaftliche Paradigmenwechsel der Gewaltfreien Kommunikation. Aus dieser Motivation kamen Rosenbergs teils recht radikale Aussagen zu gesellschaftlichen Themen wie »Arbeite nie für Geld!«, »Tu nie etwas, was dir keinen Spaß macht« oder »Es gibt kein Sollen und Müssen – du hast immer eine Wahl.« Diese Aussagen sollten nicht als Rezepte für ein gewaltfreies Leben verstanden werden. Sie waren Anregungen, um gesellschaftliche Denk- und Verhaltensmuster zu hinterfragen. Er wollte einen Vorgeschmack davon geben, wie eine Welt aussehen könnte, in der Menschen bewusst und selbstverantwortlich handeln. Er hatte eine Zukunft vor Augen, die auf Freiheit, Kooperation und Freiwilligkeit beruht. Eine Welt, in der Menschen für ihre Bedürfnisse eintreten und auf die Bedürfnisse anderer Menschen Rücksicht nehmen. Rosenberg hatte genug Lebenserfahrung, um zu sehen, dass dieser soziale Paradigmenwandel sicher Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte dauern wird.

Ich will perfekt werden

Was bringt jemanden dazu, sich mit Gewaltfreier Kommunikation zu beschäftigen? Vielleicht motivieren Sie ja ähnliche Hoffnungen und Wünsche wie mich, als ich vor zwanzig Jahren im Rahmen einer Weiterbildung zum ersten Mal von den Vier-Schritten-der-Gewaltfreien-Kommunikation hörte. Es klang interessant, aber auch etwas merkwürdig. Man sollte jetzt nur noch sagen »Ich fühle mich … (mein Gefühl), weil ich … (mein Bedürfnis) brauche.« So redet doch niemand, dachte ich. Meine damaligen Ausbilder hatten die Methode auch gerade erst kennengelernt und noch nicht wirklich verstanden. Auf die Frage, warum ich mich mit Gewaltfreier Kommunikation beschäftige, hätte ich damals wahrscheinlich gesagt, dass sie mich aus beruflichen Gründen interessiert. Ich war Kommunikationstrainer und da muss man sich schließlich fortbilden. Die Gewaltfreie Kommunikation war gerade in und Rosenbergs Buch ein Bestseller. Aber das war nicht der wirkliche Grund für mein Interesse. Im Rückblick würde ich sagen, ich war verunsichert und auf der Suche nach einer sicheren Methode, um es Jedem immer recht machen zu können.

Ich hatte mich gerade selbstständig gemacht und die Arbeit war herausfordernd. Ich erinnere mich lebhaft an den ersten größeren Auftrag. Für eine Stadtverwaltung sollte ich ein Wochenendseminar zur konstruktiven Kommunikation halten. Auf dem Hinweg war mir schlecht vor Angst und ich hatte nur einen Gedanken: »Warum tue ich mir das an? Ich gebe nie wieder ein Seminar!«. Ich war unsicher, ob ich mit meiner Arbeit ankommen würde, ob die Teilnehmer mich respektieren würden und ob mir auf Fragen sinnvolle Antworten einfallen würden. Und das ist nur ein Beispiel für meine Unsicherheit, weitere Beispiele könnte ich aus den Bereichen Beziehung, meine Aussehen, meine Rolle als Mann und Vater und so weiter nennen.

Selbstvertrauen war nicht mein bester Freund, sagen wir es mal so. Und dann lief mir die Gewaltfreie Kommunikation über den Weg. Schon der Titel klang moralisch einwandfrei. Damit, so meine Hoffnung, ließ sich jeder Konflikt klären, ich würde selbstbewusst die eigenen Bedürfnisse erkennen und durch wohlformulierte Bitten würde ich bekommen, was ich brauchte. Ich würde alle immer verstehen und dann würden mich sicher alle mögen. Ich wollte perfekt werden – das war mein Ziel. Aber diese Perfektion sollte nur dazu dienen, mein verletztes Selbstvertrauen zu besänftigen. Dass das nicht funktionieren konnte, weil die Ursachen dafür ganz woanders lagen, war mir damals nicht bewusst. Im Rückblick kommt eine tiefe Verunsicherung meiner echten Motivation wesentlich näher als die Ausrede einer professionellen Fortbildung.

Und Sie, warum möchten Sie die Gewaltfreie Kommunikation – wirklich – lernen? Was würden Sie spontan antworten? Schreiben Sie doch einmal den ersten Grund auf, der Ihnen dazu einfällt. Und dann tauchen Sie etwas tiefer und fragen Sie sich, welche Gründe es noch geben könnte. Versprechen Sie sich berufliche Vorteile? Hoffen Sie auf eine bessere Beziehung oder ein Familienleben ohne Konflikte? Hat Ihr Partner/Ihre Partnerin es Ihnen nahegelegt? Und welche Sehnsüchte und Bedürfnisse versuchen Sie sich dadurch wirklich zu erfüllen?

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