Digitale Reizreduktion für neue Denkräume

Ein typischer Tag. Während man noch schreibt oder tippt, buhlen die Messanger um unsere Aufmerksamkeit, der Tab im Browser zeigt neue Nachricht bei LinkedIn an, der Mediaticker verheißt neue Schreckensnachrichten und bei WhatsApp laufen die Nachrichten wie am Fliesband. Da gibt es nur einen Ausweg: Digitale Reizreduktion. Denn nur so halten wir den Kopf frei.

»Je mehr wir unsere Kommunikationswege perfektionieren, desto weniger kommunizieren wir.«

John Boynton Priestley (1894 – 1984), englischer Schriftsteller,

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»Handy aus – Gehirn an!« So lautet der Titel einer Paderborner Studie zur Auswirkung von Smartphones auf die Aufmerksamkeit. Verblüffendes Ergebnis: Das Handy lenkt uns ab, und zwar auch dann, wenn es ausgeschaltet in Sichtweite liegt. Eine fortdauernde Präsenz des Smartphones beeinflusst die kognitiven Leistungen. Nutzer und Nutzerinnen arbeiten dann langsamer und unkonzentrierter. Offenbar, so der Leiter der Studie Sven Lindberg, existiert eine übergeordnete Instanz, die den Drang, das Handy unverzüglich anzuschalten, unterdrückt. Und das vermindert die Aufmerksamkeit für andere Dinge. Die Fähigkeit, Handlungen auszuführen und Impulse zu kontrollieren, ist Aufgabe des Arbeitsgedächtnisses. Und dieser Teil unseres Hirns ist störanfällig und hat eine begrenzte Kapazität. Der Studienleiter empfiehlt, das ausgeschaltete Smartphone in einem anderen Raum aufzubewahren, lediglich das Display auszuschalten bringt nichts. Wer bewusst auch mal abschalten möchte, muss eine gehörige Portion Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen aufbringen. Das kann gelingen, aber nur, wenn man ganz konkrete Maßnahmen findet, diese dann sichtbar notiert und sich in Gedanken immer wieder darauf konzentriert, wie viel Zeitgewinn, Ruhe und Ausgeglichenheit man dafür gewinnt (Universität Paderborn 2023).

Nahezu jeder besitzt ein Smartphone. Mailen, surfen, spielen, Musik hören, informieren, soziale Kontakte pflegen, Sprachnachrichten empfangen und senden, fotografieren und sogar telefonieren … Unser Smartphone ist zum zentralen Begleiter unseres Lebens geworden. Es gibt Menschen, die hängen permanent am Handy. Kennen Sie folgende Situation? Sie wollen lediglich das Wetter checken. Doch dann ploppt eine E-Mail auf, die Sie dazu inspiriert, in Google weiterzusuchen, um dann die Ergebnisse zurückmailen zu können, das Telefon klingelt, eine SMS meldet »dringend« und so weiter.

Licht und Schatten der Smartphones

Der Alleskönner im Hosentaschenformat ist bestens geeignet, unser Leben zu vereinfachen. Er ist mit vielen Funktionen ausgestattet, hilft uns beim Navigieren und bietet jederzeit Zugang zu Informationen. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Viele Menschen sind offenbar wenig in der Lage, im Hier und Jetzt präsent zu sein. Darunter können Beziehungen leiden, die Konzentrationsfähigkeit kann abnehmen und unser Wohlbefinden kann sinken.

Die fortschreitende Digitalisierung unseres Lebens trägt dazu bei, dass es ohne Handy kaum noch geht. Und besonders bedenklich ist, dass diejenigen, die kein Handy haben, von Teilen des Alltagslebens ausgeschlossen sind.

Dass ein Smartphone in unserem Gehirn etwas verändert, steht außer Frage. Nur, was geschieht in unserem Denkapparat? Die Ablenkungsmöglichkeit, soziale Vernetzung und ständige Erreichbarkeit können sehr belastend sein. Pausenlose Reize buhlen um unsere Aufmerksamkeit. Das ist dann wie Multitasking. Unser Gehirn ist kaum in der Lage, permanent wechselnde, kurze Impulse aufzunehmen, zu verarbeiten oder gar zu speichern. Derartige Tätigkeiten sind so sinnlos wie der Versuch, mit der Luftpumpe die Windrichtung zu verändern. »Wäre Klugheit oder Intelligenz nur das rasche Abrufen von Fakten und Informationen, wäre der Phono sapiens zweifelsohne eine Intelligenzbestie«, schreiben die Autoren in ZEIT Wissen (Boeing/Lubbadeh/Rauner 2015).

Der Nobelpreisträger Daniel Kahnemann unterscheidet zwei Denkrichtungen. Das analytische, langsame Denken, das Zahlen, Daten, Fakten betrifft, und das schnelle, intuitive Denken, das eine bewertende Einschätzung hervorbringt. Während das intuitive Denken schnell ist, aber oft Fehlschlüsse produziert, ist das analytische Denken langsam, bringt aber weitgehend korrekte Informationen hervor. Auf Kahnemanns Modell basieren zahlreiche Untersuchungen, die den Einfluss von Smartphones auf das Denken untersucht haben. Eine Studie ergab, dass Probanden, die ihr Smartphone sehr oft nutzen, bei entsprechenden Fragen zu raschen intuitiven Denkmustern tendierten und schlechter abschnitten als die Vergleichsgruppe. »Unsere Forschung stützt die Annahme, dass es einen Zusammenhang zwischen exzessivem Smartphone-Gebrauch und niedrigerer Intelligenz gibt«, erklärt Co-Autor Gordon Pennycook (ebenda). Eine britische Studie mit zehntausend Schülern stellte fest, dass an Schulen, an denen ein Smartphone-Verbot galt, die Schüler in Tests etwa sechs Prozent besser abschnitten als Schüler an Schulen ohne Verbot (ebenda).

Der Mobilfunkanbieter O2 hat seine Kunden befragt, womit sie sich mit ihrem Smartphone beschäftigen. Telefoniert wurde nur zwölf Minuten täglich, mit Chatten und E-Mail-Schreiben verbringt der User einundzwanzig Minuten pro Tag. Offenbar hat sich das Smartphone von seinem ursprünglichen Zweck, nämlich zu telefonieren, entfernt. Woran liegt das? Wir schreiben eher als miteinander zu sprechen. Jemanden jederzeit erreichen zu können, ist nützlich. Aber die permanente Erreichbarkeit ist für viele belastend.

Können wir ohne leben?

Auf das Klingeln des Telefons müssen wir sofort reagieren. Mit einer Message können wir uns Zeit lassen. Auf diese Weise verflache die Konversation zu Connection, meint die amerikanische Soziologin, Sherry Turkle. Die Wissenschaftlerin untersucht seit Jahren die Beziehung von Menschen und Maschinen. Die Menschen würden verlernen, echte Gespräche zu führen. Augenscheinlich, so Turkle, »kostet es uns viel weniger Überwindung, jemandem, den wir nicht gut kennen, eine E-Mail, Facebook-, Xing- oder WhatsApp-Nachricht zu senden, als ihn anzurufen« (Boeing/Lubbadeh/Rauner 2015).

Ist das alles Schwarzmalerei? Nein, keineswegs. Man sollte den digitalen Alleskönner in eine Reihe von Erfindungen stellen, die unser Leben erleichtert haben: die Glühbirne, die Eisenbahn, der Fernseher und vieles mehr. Das Smartphone ist das Schweizer Taschenmessers des digitalen Zeitalters. Können wir denn ohne leben? Können wir überhaupt noch ohne leben? Nein, sagen immerhin fast die Hälfte der zweitausend Amerikaner, die das Pew Internet Research Center im Jahr 2014 befragt hat.

Macht das Smartphone denn wenigstens glücklicher? Siebenundsiebzig Prozent antworten mit Ja. Allerdings bedauern siebenundfünfzig Prozent, dass das Smartphone ablenke, und sechsunddreißig Prozent sind sogar richtig wütend auf ihr elektronisches Helferlein. Bemerkenswert sind die Unterschiede in der Bewertung. Nicht überforderte ältere Menschen beklagen sich über die komplizierte Technik, sondern jüngere. Die Begründung: »Ältere Menschen sehen im Smartphone eher ein Werkzeug, ein Mittel zum Zweck. Und hat es den erfüllt, sind sie zufrieden. Jüngere hingegen integrierten das Gerät in viel mehr Lebensbereiche. Und erlebten mit ihm dann auch mehr Auf und Ab.« (Ebenda)

Vier Tipps für ein Digitaldetox

#1 Handy aus
Schalten Sie Ihr Handy komplett aus und platzieren Sie es in einem Nebenraum, wo kein Sicht- und Hörkontakt besteht!

#2 Finden Sie konkrete Maßnahmen für eine Handypause
Wann und wie lange soll es ruhen, wo befindet es sich in der digitalen Abwesenheit, sollte die Smartphonepause von einer weiteren Person kontrolliert werden und, wenn ja, wie läuft die Maßnahme ab? Es ist zwingend erforderlich, dass Sie sich die Regeln handschriftlich notieren und an einen Ort legen, wo sie sichtbar bleiben, zum Beispiel Spiegel im Bad, als Post-it am Kühlschrank oder am Armaturenbrett des Autos …

#3 Fokussiere dich au den Mehrgewin der digitalen Pause
Konzentrieren Sie sich immer wieder darauf, was Sie mit der digitalen Pause gewinnen: mehr Zeit, Ruhe und Ausgeglichenheit.

#4 Kommuniziere analog
Führen Sie persönliche analoge Gespräche in Ihrer Umgebung, von Angesicht zu Angesicht, nicht über digitale Medien!

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