Die hybride Depression

Am 20. März ist es vorbei mit der Homeoffice-Pflicht. Dann geht es endlich wieder zurück ins Büro! So schön sich das liest, so unwirklich ist es. In den den letzten beiden Jahren hat sich so einiges geändert, was das Arbeiten von zuhause betrifft.

Firmen erkennen, dass Mitarbeiter auch außer Haus produktiv sind. Menschen finden heraus, dass sich der Einsatz am heimischen Schreibtisch besser mit der Familie verträgt. Und zu all diesem Glück kommt die gewonnene Lebenszeit, in der der gemeine Pendler länger schläft oder früher zum Gärtnern bereit ist. Unternehmen sehen in eingesparten, ja sogar fremd vermieteten Büroflächen positive Einflüsse auf das Geschäftsmodell. Rund heraus, es sieht düster aus, für die Büro-Soap-Opera der Vor-Corona-Zeit.

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Doch alles in allem gibt’s kaum was zu jammern. Wir Neuarbeiter sollten da wohl frohlocken. So viel Selbstverantwortung. Derartig (eigen-)sinnerfüllende Freiräume. Arbeiten wann und wo Du willst. Endlich mehr Fokus auf die Ergebnisse als die Stundenzahl. Tippi-Toppi – wenigstens ein Gutes, von der Pandemie für die Arbeitswelt. Leider stört meine Wirklichkeit den Chor der Freude. Denn wir übersehen da jemand ganz Entscheidendes.

Was wir übersehen

Keine Sorge, das Loblied auf die Präsenz bleibt natürlich aus. Ich finde Homeoffice super. Doch ich bin ja auch nur ein Mensch von vielen. Viktor Frankl beschrieb aus seiner Forschung drei Autobahnen zum Sinn. Eine ist die Konfrontation mit dem Schicksal. So aufgeblasen das daherkommt, so häufig betrifft es uns. So wollte ich gerne Ingenieur werden. Leider gewann ich einen Studienplatz an einer Wirtschaftshochschule. Da mir der Mut fehlte, meinen Eltern zu sagen, dass ich den gerne ausschlagen wollte, bin ich in Konsequenz was völlig gegenteiliges, nämlich Betriebswirt geworden.

Die zweite Autobahn sieht Frankl in der Liebe zur Arbeit. So sehr ich es manchmal bedauere, kein Umweltenergietechniker zu sein, so sehr erfüllt mich mein Engagement für ein alternatives Wirtschaftssystem. Ich kann mit Fug und Recht von mir sagen: „Ich liebe meine Arbeit!“

Als dritten zentralen Strang zum Sinn identifiziert der Psychologe die Liebe zu anderen Menschen. Damit sind im betrieblichen Zusammenhang die Kolleginnen und Kollegen gemeint. Und Frankl fasst den Begriff der Liebe hier durchaus sehr weit. Genau diese zuletzt genannte Autobahn zum Sinn krankt am verloren gegangen sozialen Kontakt. Und diese Ursache für Gemütsschwere einiger ist mit der Pandemie und dem Ideal der hybriden Arbeitsstelle offensichtlich gekommen, um zu bleiben. Denn die Produktivsten unter uns sehen schon heute die blühenden Landschaften des räumlichen Mischarbeitsplatzes.

Die Mischung macht’s eben nicht immer

In den letzten Tagen und Wochen treffen meine Kolleg:innen und ich regelmäßig auf folgende oder ähnliche Aussagen. Astrid (eine Betriebskatalysatorin bei einem unserer Kunden) erzählt uns:

„Wie soll ich das erklären? Jetzt kam damit schon die dritte Kollegin zu mir. Sie sagt, dass sie gar nicht mehr weiß, warum sie hier noch arbeitet. Es hätte sich ja eigentlich kaum was verändert. Trotzdem war sie früher Feuer und Flamme für die Firma. Sie fühlte sich anerkannt. Sie gehörte dazu. Seit einiger Zeit hat sie den Eindruck, dass sie nur noch ein Rädchen im Getriebe ist. Das es egal ist, ob sie den Job macht oder jemand anderes. Laut eigener Aussage steht sie kurz vor der Kündigung.“

In unserer Beratung nennen wir die hier vernachlässigte Verantwortung von Organisationen Sozialhygiene. Und es ist viel Schlimmer, als es auf den ersten Blick erscheint. Wir könnten Sozialhygiene als Programm missverstehen. Sie mit einer Aufgabe in einer abzuarbeitenden Todo-Liste verwechseln. Doch weit gefehlt. Bis vor Corona fand ein Großteil davon in Kaffeeküchen, auf den Betriebsfluren, in den Kantinen und auf dem Firmenparkplatz statt. Einfach so. Ohne extra darüber nachdenken zu müssen. Weil es einigen von uns ein Bedürfnis ist. Mit Feel-Good-Management ist dem, wenn überhaupt, nur teilweise beizukommen. Auch Community-Building erfasst wenig mehr als kleine Aspekte von dem, was wir verlieren. Die Bindung Einzelner zur Gemeinschaft bricht hier ab. Und da es nur einen Anteil der Belegschaft betrifft, nämlich diejenigen, die ihren Sinn in der Liebe zu anderen Menschen erfüllen, läuft der Rest Gefahr, den Schaden erst zu erkennen, wenn er bereits eingetreten ist. Und dann geht genau das über Bord, was in so vieler Munde ist – ein Teil des Sinns Eurer Firma.

Eure Firmen verlieren ihren Sinn

Wie groß sich dieses Risiko darstellt, lässt sich am Loblied auf die hybride Arbeitszukunft ablesen. Die Idee, das wäre ein Ideal, ist gesetzt. Doch Achtung, liebe Betriebe, ihr setzt damit die Loyalität derer auf’s Spiel, die ihr stets gerne überseht. Es sind die ruhigen Menschen. Die, die ihren Job pflichtbewusst erledigen. In guten, wie in schlechten Zeiten für die Firma da sind. Auf die ihr Euch verlassen könnt. Die sich führen lassen. Weil ihnen der Zusammenhalt, die soziale Gemeinschaft, die Kolleginnen und Kollegen mehr Wert sind als Karriere, hohe Einkommen, Managementaufmerksamkeit oder ein pünktlicher Feierabend. Es sind die, die ohne großes Aufheben, ohne (eingebildetes) Lobdefizit und ohne lauthals zu lamentieren im Sinne des Unternehmens arbeiten. Denn sie wollen, dass es die Firma, mit diesen Mitmenschen noch eine lange Zeit gibt.

Adaptive Organisationen hinterfragen deshalb selbst den Hype der hybriden Arbeit kritisch. Unsere Kunden erkennen die Verluste, die sie damit riskieren. Bis jetzt haben wir kein Allheilmittel dafür gefunden. Doch auf jeden Fall sehen wir Euch. Erkennen wir, dass ihr gerade Euren Sinn verliert. Und wir werden mit Euch Wege finden, genau das zu vermeiden. Denn das ist es, was eine adaptive Organisation ausmacht. Auch die Stillen bekommen den Raum und die Zeit, aktiv mitzugestalten.

Und so frage ich: „Wollen wir wirklich mit dem Pseudo-Ideal der hybriden Arbeit die Zuverlässigsten unter uns in ihrer Depression alleine lassen?“ Ich weiß: „Wir alle lieben sie. Dafür, dass sie unaufgefordert einen Kuchen mitbringen, weil sie gestern Lust hatten zu backen. Dafür, dass sie alles stehen und liegen lassen, wenn wir mal jemanden brauchen, der uns zuhört. Dafür, dass sie der liebevolle soziale Kitt sind, ohne den keine Gemeinschaft überlebt.“

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