„Sprache schafft Bewusstsein“, „Worte gestalten Realität“, „Begriffe können verletzen“ — so die Befürworter der Sprachhygiene. Die Befürworter — sei es durch “Gendern” oder Vermeidung von Begriffen wie dem “N-Wort” — plädieren für mehr Achtung, Respekt und Gleichberechtigung in der Gesellschaft. Das ist vernünftig und wünschenswert, also warum nicht einfach ein paar genderneutrale Begriffe lernen und auf einige Worte ganz verzichten?
Der aufgeheizte Disput ist Ausdruck eines tieferen Konflikts in modernen Gesellschaften.
Aber die Sache ist komplizierter, als sie auf den ersten Blick erscheint. Der aufgeheizte Disput um die Sprachhygiene ist Ausdruck eines tieferen Konflikts in modernen Gesellschaften.
Ein konstruktiver Dialog setzt Reflexionsfähigkeit, Empathie, Klarheit und Wohlwollen voraus. Das scheint selbstverständlich — ist es aber nicht. Diese Voraussetzungen sind in den Diskussionen zu dem Thema leider nicht oft gegeben. Warum das so ist, und was Du dazu tun kannst, um diese Gespräche konstruktiver zu führen — darum soll es hier gehen.
Deine Weltsicht zeigt sich in jedem Gespräch
Von der Geburt bis zum Erwachsenen durchlaufen wir Menschen eine tiefgreifende emotionale, soziale und geistige Entwicklung, die man in ihrer zeitlichen Reihenfolge sehr vereinfacht in fünf Phasen unterscheiden kann: egozentrisch, konformistisch, rational, pluralistisch und integral.
Jede Entwicklungsphase ist in sich richtig und wichtig — und dennoch sind spätere Ebenen besser als frühere, in dem Sinne, dass sie umfassender, empathischer, vernünftiger oder, ganz altmodisch ausgedrückt, reifer sind. Gesunde Erwachsene durchlaufen prinzipiell jede Phase, aber nicht jeder landet dabei auf einer integralen Ebene.
Menschen bilden einen Schwerpunkt auf oder um eine der Ebenen herum und dies führt zu sehr unterschiedlichen Weltsichten und Werte-Haltungen. Diese bilden das unbewusste Fundament unseres Denkens, Fühlens und Handelns.
Jede dieser Ebenen hat ihre Errungenschaften und Qualitäten, aber auch ihre Schattenseiten. Ein gesundes Ego ist überlebensnotwendig, erwachsener Egoismus ist oft destruktiv. Konformität fördert den sozialen Zusammenhalt, kann aber auch Freiheit und Individualität unterdrücken.
Rationalität bewahrt uns vor konformistischen Dogmen, kann aber auch zur Abwertung „irrationaler“ Gefühle führen. Pluralistische Toleranz, Gleichberechtigung und Harmonie sind wichtige Werte in einer globalen Welt. Aber unreflektierte Toleranz und falsche Harmonie können eine notwendige Auseinandersetzung und sinnvolle Abgrenzung behindern.
Wir müssen die Leistungen und Fehlleistungen jeder Entwicklungsphase verstehen und anerkennen, um so zu einer ausgewogenen, integralen Haltung zu gelangen.
Egozentrisch, konformistisch oder rational — welche Sprachhygiene soll es sein?
In der Diskussion um die Sprachhygiene argumentieren Menschen immer (!) vor dem Hintergrund ihrer unbewussten Werte-Haltung bzw. Weltsicht. Diese Haltung bestimmt die tiefere, eigentliche Motivation hinter den Argumenten rund um das Thema Sprachhygiene.
Man kann Sprachhygiene aus einer egozentrischen Haltung heraus befürworten oder ablehnen. Die Argumentation lautet dann, entweder “Ich finde gendern richtig und will, dass alle Menschen gendern.“ oder, „Ich rede, wie ich will und lasse mir von niemandem etwas vorschreiben!“.
In der egozentrisch geführten Diskussion geht es also nicht darum, ob jemand durch Worte geschützt oder verletzt werden könnte — es geht um die Durchsetzung der eigenen Sichtweise.
Die konformistische Haltung dagegen wird durch Angst um die Anerkennung und Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe motiviert. Eigene, egozentrische Wünsche müssen zurückstehen. Diese Haltung sagt: „Was die Mehrheit möchte, ist wichtiger, als das, was ich möchte.“ Hier wird jemand also bspw. nur „gendern“ (oder es ablehnen), um dazuzugehören oder aus Angst, sozial verurteilt zu werden — und nicht, weil man sich inhaltlich mit dem Thema befasst hat.
Eine rationale Haltung versucht meist, die Argumentation für oder gegen eine Sprachhygiene auf Basis wissenschaftlicher Studien zu entscheiden. Sind also Gesellschaften, die „gendern“ gerechter oder gewaltfreier? Bisher scheint keine der beiden Seiten ausreichend aussagekräftige Studien vorweisen zu können, sonst könnte der Disput entschieden werden. Oder (was ich eher vermute), die Diskussion wird nur scheinbar auf einer rationalen Ebene geführt, und darunter sind tatsächlich andere Motive entscheidend.
In der öffentlichen Diskussion wird vorwiegend aus einer pluralistischen Weltsicht argumentiert.
Der Pluralismus vertritt wichtige Werte wie Gleichberechtigung, Toleranz und Wertschätzung. Das sind wichtige Werte, wie gesagt. Eine Schattenseite des Pluralismus besteht jedoch darin, dass er seine Werte in einer neuen Dogmatik vertritt.
Aus einer Haltung der Gleichberechtigung wird ein unreflektiertes „Alle Menschen sind immer und überall gleich“. Aus dem Wunsch nach einem wertschätzenden Dialog wird die unrealistische Idee, durch eine „neue Sprache“ jede Bewertung oder Verletzung vermeiden zu wollen.
Eine neue Sprache, die nicht verletzt?
Diese pluralistischen Ansprüche von “Sicherheit” und “Save spaces” lassen sich nicht konsistent aufrechterhalten. Unreflektierte Gleichheit oder Toleranz sind nicht nur praktisch unmöglich, sondern irrational: Wer immer alle zur Party einladen will, darf den Selbstmordattentäter nicht ausschließen.
Auch die pluralistische Hoffnung, emotionale Verletzungen durch Sprache zu vermeiden, ist zum Scheitern verurteilt.
Emotionen sind subjektiv, kontextabhängig und vor allem „selbst gemacht“. Gefühle entstehen durch die subjektive Bewertung von Reizen durch unseren Organismus. Diese Bewertung kann sich ändern und ist individuell unterschiedlich. „Du Opfer“ kann eine böse Beleidigung oder ein jugendlicher Gruß sein, das hängt von den Umständen ab.
Es gibt keine emotional sicheren, „nicht-verletzenden“ Worte. Eine pluralistisch verunsicherte Sprachhygiene projiziert eigene Ängste und Unsicherheit nach außen, macht andere für die eigenen Gefühle verantwortlich und fordert dann „sichere Worte“, um sich selbst zu schützen.
Diese Sicherheit ist illusorisch. Eine (egozentrische) Haltung, die verletzen möchte, wird dies mit oder ohne Worte erreichen. Auch aus einer wohlwollenden Intention heraus kann man unabsichtlich verletzen. Dann bleibt nur, als Zeichen aufrichtiger Empathie, um Entschuldigung zu bitten.
Selbstverantwortung und Empathie statt Sprachhygiene
Eigentlich unnötig zu betonen, dass dies keine Entschuldigung für bewusst verletzendes oder kriminelles Verhalten ist. Die Kommentare in den Social-Media-Kanälen sind voll von herabwürdigenden und rassistischen Äußerungen. Wir können und sollten die schlimmsten sprachlichen Auswüchse gesetzlich regeln, aber dies müssen gut begründete Ausnahmen bleiben.
Eine integrierende Haltung in der Diskussion um die Sprachhygiene ist sehr viel wichtiger als die Frage, ob „Sprache Bewusstsein schafft“ oder umgekehrt. Der Streit um Sprachregeln muss in einem freien Klima erfolgen, ohne drohende Ausgrenzung oder soziale Ächtung durch die Medien.
Der Konflikt, der sich am Thema “Sprachhygiene” entzündet, ist meines Erachtens entweder Ausdruck eines zunehmenden Auseinanderdriftens der zugrunde liegenden Werte- und Weltbilder oder dem zunehmenden Bewusstwerden bestehender Werte-Konflikte in der Gesellschaft. Diesem Konflikt kann sich niemand entziehen, aber man kann sich darin konstruktiv oder destruktiv verhalten.
Mitgefühl, Liebe und Toleranz haben sich noch nie durch Verbote oder Regeln verordnen lassen. Wir können lernen, mehr Verantwortung zu übernehmen, mehr Empathie zu entwickeln und unser Mensch-Sein besser zu verstehen. Und das zu leben, worum es bei der „Sprachhygiene“ doch gehen soll: Um die menschlichen Werte, die uns alle verbinden.

Markus Fischer, Dipl. Volkswirt, unterstützt seit über 20 Jahren die Klärung spannungsgeladener Beziehungen und weiß von sich selbst, dass Konflikte selten willkommen sind. Als Pionier der Gewaltfreien Kommunikation in Deutschland ist er ein kritischer Denker geblieben. Heute begleitet er den Kulturwandel in Unternehmen nach dem Grundsatz: Freiheit gibt es nur mit Verantwortung.