Alles nach Vorschrift – Regel(ge)recht untergehen

Alles ist geregelt bis ins kleinste Detail. Selbst der Untergang des Narrenschiffs wird minutiös geplant. Welche Luken werden geöffnet, welche Schotten blockiert, an welchem Riff zerschellen wir ab besten? Steht alles im Regelwerk – nichts wird dem Zufall überlassen. Dafür werden wir beneidet. Weltweit.
»Regeln gibt es auf der ganzen Welt!« kann man einwenden. Das stimmt – nur im Rest der Welt hält man sich nicht ganz so stoisch und buchstabengetreu daran. Im Zweifel schmeißt man die Regeln für den Untergang einfach über Bord – selbst denken und handeln kann helfen.

Deutschland ist weltweit bekannt für seinen Ordnungssinn. Wir regeln so gut wie alles. Es liegt in unserer Mentalität, dass jeder weiß, was er zu tun hat. Besonders, wenn es um Prozesse in der Zukunft geht. Sollte irgendwann mal etwas relevant sein, brauchen wir dafür eine Regel, und zwar vorher. Das gibt uns Sicherheit. Und wir Deutschen lieben Sicherheit.

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Den meisten Menschen gibt es ein gutes Gefühl, nach einem festgelegten Verhaltensmuster zu handeln, sollte in Zukunft etwas Ungewisses passieren. Das Problem dabei ist, dass die Zukunft die Zukunft ist. Sie ist nicht vorhersehbar.

Regeln für die Zukunft – Eine Illusion

Regeln für die Zukunft festzulegen macht nur dann Sinn, wenn man in einer perfekten Welt lebt. Das tun wir aber nicht, wir leben nicht unter Laborbedingungen. Es ist nicht möglich, alles komplett zu überschauen. Die heutige Zeit ist geprägt von permanentem Wandel. Das führt dazu, dass Regeln im Weg stehen können oder angepasst werden müssen, weil sie sich als nicht mehr nützlich herausstellen. Diese Flexibilität ist uns größtenteils abhandengekommen. Es wird versucht, in der Gegenwart die Zukunft zu regeln, ohne alle verfügbaren Informationen zu haben. Niemand kann in die Zukunft schauen. Natürlich sind gewisse Tendenzen absehbar, mehr aber auch nicht. Es ist nicht möglich, Prozesse in der Zukunft im Detail zu regulieren. Dennoch wird es gemacht, denn es gibt uns Sicherheit.

Für diese Art des Handelns bezahlen wir einen hohen Preis, denn sie beraubt uns unserer Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Irgendwann stellen wir fest, dass ein regulierter Prozess gar nicht in die tatsächliche Realität passt – und was machen wir? Anstatt den regulierten Prozess aufzugeben, ignorieren wir die Realität.

Das musst du dir mal auf der Zunge zergehen lassen: Wir haben einen Plan, der nicht funktioniert oder nicht zu der tatsächlichen Situation passt. Anstatt den Plan anzupassen, versuchen wir auf Biegen und Brechen diesen Plan zu durchzusetzen.

Ohne Regeln weniger Probleme

Mit gesundem Menschenverstand und freiem, rationalem Handeln könnte man viele Probleme im Handumdrehen lösen. Dank Compliance auf allen Ebenen ist dazu niemand mehr in der Lage.

Prozesse und Abläufe zu regulieren macht nur dann Sinn, wenn die Regeln es auch machen. Dem Anspruch, jeden Prozess und jede Eventualität bis ins kleinste Detail zu regulieren, kann niemand gerecht werden. Sollte im Zuge dessen ein Vorgang nicht reguliert sein, steht das Personal auf verlorenem Posten – mit der Argumentation: »Ich würde Ihnen ja gerne helfen, aber dafür gibt es keine Regel.« Bevor ein Mitarbeiter dann falsches Verhalten in Kauf nimmt und vielleicht sogar mit einer Strafe des Arbeitgebers zu rechnen hat, wird der sichere Weg gewählt und nichts unternommen.

Das ist übrigens auch einer der Hauptgründe, warum von Beamten geprägte Einrichtungen seit Jahrzehnten auf der Stelle treten. Der öffentliche Dienst hat kaum Innovationen und Fortschritte zu verzeichnen. Wie zuvor schon erwähnt, ist unser Schulsystem veraltet und Bedarf einer umfassenden Erneuerung. Aber wer soll das machen: Beamte, die streng nach Vorschrift arbeiten und stets Regeln befolgen?

Den Fortschritt wegregulieren

Seit Jahren gibt es Modellversuche und Bildungsreformen deutscher Bundesländer unter der Bezeichnung »Selbstständige Schule«. In Hessen erhalten Schulen mit diesem Titel größere Handlungsspielräume, um die Qualität der Angebote eigenständig zu erweitern. Richtig selbstständig geworden ist kaum eine Schule. Das klassische Hierarchiesystem, bestehend aus unterer und oberer Schulaufsicht, ist zu tief verwurzelt. Fortschritt wird hier wegreguliert.

Brauchen wir die Regel noch?

Regeln sind wichtig, keine Frage, aber zu viele Regeln sind kontraproduktiv. Wir können nicht alles regulieren. Dennoch wollen wir diesem Anspruch gerecht werden, auch in unserem eigenen Leben. Wir befolgen so viele Regeln in unserem Leben, dass wir dadurch unsere Anpassungsfähigkeit opfern. Man folgt den gesellschaftlichen Regeln – und dann sind da auch noch die Regeln, die man selbst für sich und sein Leben aufgestellt hat. Lebensregeln sind wichtig, nur sollten wir vermeiden, es mit solchen Regeln zu übertreiben. Es kann nicht das ganze Leben reguliert werden. Wir können uns nicht auf alle Eventualitäten des Lebens vorbereiten, indem wir uns Verhaltensregeln für den Fall der Fälle überlegen. So funktioniert das Prinzip Leben nicht. Sich Gedanken darüber zu machen, wie man vorgeht, sollte beispielsweise ein Familienmitglied erkranken, ist völlig legitim. Nur dürfen wir nicht »Gedanken machen« mit »regulieren« gleichsetzen. Für viele Lebenssituationen wäre ein Regelbuch, in dem situative Verhaltensmuster vorgegeben werden, ein nützliches Instrument. Dieses Regelbuch ist nur nicht existent. Zumindest nicht so, dass es brauchbar wäre. Vielmehr muss im Einzelfall entschieden werden, wie man sich verhält, orientiert an dem, was man sich überlegt hat. Wer nach in der Vergangenheit festgelegten Mustern handelt, ignoriert die Gegenwart. So zu handeln bringt erhebliche Risiken mit. Ich musste das selbst auf schmerzliche Art und Weise erfahren.

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Alles Kopfsache - Erfolg istkein Glück
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Tennisprofi zu werden, war mein großer Lebenstraum. Mit sechzehn Jahren spielte ich bereits in der höchsten Klasse Deutschlands. Mit siebzehn gewann ich mein erstes internationales Turnier. Mit achtzehn schmerzte meine Schulter, und ein Jahr später stand fest, dass an eine professionelle Karriere nicht zu denken ist. Wahrhaben wollte ich das nicht, denn es passte nicht in meinen Lebensplan. Ich hatte eine Lebensregel, der ich alles andere unterworfen habe: Tennisprofi werden.

Schweren Herzens traf ich die Entscheidung, als Trainer zu arbeiten. Mir erschien das nur logisch: Wenn es schon nicht mit der Profikarriere funktioniert, dann muss es eine Karriere als Trainer sein. Es gab allerdings ein Problem: Mir machte die Trainertätigkeit keinen Spaß. Diesem Problem trat ich mit Ignoranz entgegen. Ich folgte stur meiner selbst aufgestellten Regel: wenn schon kein Profi, dann Trainer.

Ich versteifte mich so sehr auf diese Regel, dass ich unfähig war, wahrzunehmen, was um mich herum passierte. Das führte letztlich dazu, dass ich viele Chancen ungenutzt ließ, weil ich sie einfach nicht gesehen habe. Was jedoch schlimmer war: Ich ignorierte bewusst mein eigenes Unglück. Erst nach zwei Jahren war der Schmerz, unglücklich zu sein, so groß, dass ich meine Lebensregel brach. Ich war bis dahin weder flexibel noch anpassungsfähig. Erst der Regelbruch öffnete mir neue Wege, für die ich vorher nicht offen war. Dieser Regelbruch hat es mir überhaupt erst ermöglicht, in meinem Leben glücklich zu werden.

Wir tun gut daran, hin und wieder unsere eigenen Lebensregeln zu hinterfragen. Wir müssen öfter in uns hineinhören und uns fragen, ob wir wirklich glücklich sind. Ob das, was wir machen, wirklich das ist, was wir machen wollen. Sich selbst anzulügen ist grob fahrlässig. Es erfordert Mut, die Erkenntnis einzusehen, falschen Lebensregeln zu folgen – sie zu brechen noch viel mehr. Aber erst der Bruch bringt uns Flexibilität zurück, die wir für das Abenteuer Leben brauchen.

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