Dunkle Wolken am gewaltfreien Himmel

Gewaltfreie Kommunikation gilt vielen Anhängern als Universaltool. Ganz gleich, ob Konflikte lösen, das Schulsystem verbessern, gewaltfrei erziehen, Beziehungsporbleme auflösen – mit Gewaltfreier Kommunikation ist das ein Kinderspiel. Einfach und harmonisch – so wurde es verkauft, so stellte ich es mir vor.

Das Thema Entwicklung berührt aber nicht nur die persönliche Weiterentwicklung, sondern auch die Methode der Gewaltfreien Kommunikation selbst. Ich war völlig begeistert, als ich die Gewaltfreie Kommunikation kennenlernte. Mir gefiel Marshall Rosenbergs bescheidene Art, seine bewegenden Erzählungen und sein Humor. Seine Methode schien mir das Allheilmittel zu sein, für einige echt schwierige Probleme der Menschheit. Endlich eine konkrete Hilfe, um Beziehungsprobleme zu klären, Kinder gewaltfrei zu erziehen, das Schulsystem zu verbessern und alle Konflikte zu lösen. Ab jetzt würde alles einfacher, echter, harmonischer – dachte ich.

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Aber im Laufe der Zeit kamen mir mehr und mehr Zweifel. Mit meiner damaligen Partnerin kam es immer wieder zu Streitigkeiten darüber, wie man nun Gewaltfreie Kommunikation richtig anwendet. Nach dem Motto, »Du warst nicht gewaltfrei mit mir.« oder »Du weißt doch, dass ich jetzt Empathie brauche.« Und auch in der Arbeit mit Kollegen innerhalb des entstehenden Netzwerks um die Gewaltfreie Kommunikation erlebte ich merkwürdige Entwicklungen. Wenn diese Kommunikation so gewaltfrei war, wie konnte es dann sein, dass Sitzungen zu langweiligen So-geht-es-mir-wie-geht-es-dir-Runden ausarteten, in denen man zu keinem Ergebnis kam? Warum konnten wichtige Entscheidungen von einer einzigen Person blockiert werden, die zwar wenige Argumente, aber umso mehr dramatische Gefühle dazu hatte?

»Freiheit und Eigenverantwortung
sind die Voraussetzungen
der Persönlichkeitsentwicklung.«

Ich erlebte, wie immer neue Regeln aufgestellt wurden, nach denen man ein gewaltfreies Gespräch zu führen hatte. Ich sollte immer sagen, wie es mir geht und vor allem über meine Gefühle und Bedürfnisse sprechen. Auch bei meinem Gegenüber sollte ich immer das Gesagte wiederholen und dabei Gefühle und Bedürfnisse benennen. Aber die Gespräche wurden dadurch nicht besser, die Sitzungen nicht effektiver und die Konflikte nicht offen angesprochen, geschweige denn geklärt.

Die Anzeichen mehrten sich, dass es mit der Gewaltfreien Kommunikation ein erhebliches Problem gab. Mir war nicht klar, was da passierte und noch weniger, was ich dagegen tun könnte. Ich bekam zunehmend den Eindruck, dass sich die Gewaltfreie Kommunikation zu einer unechten, zensierten Insider-Sprache entwickelte, die hauptsächlich dazu diente, nett zu sein und sich nicht weh zu tun. Und Rosenberg hatte ja darauf hingewiesen, dass diese Baby-Phänomene, wie er das nannte, am Anfang dazu gehörten. Im Nachhinein betrachtet, versuchte ich mir einzureden, dass ich die gewaltfreie Sprache einfach noch besser lernen musste und dann würden sich diese Probleme klären. Ein großer Irrtum, wie ich mir später eingestehen musste, denn die Ursachen lagen ganz woanders.

Ein Philosoph kommt zu Hilfe

Zu diesem Zeitpunkt kam mir der Zufall zu Hilfe. Ich beschäftigte mich schon einige Jahre mit der Arbeit des amerikanischen Philosophen Ken Wilber. Kennengelernt hatte ich ihn über seinen bewegenden Bericht über die Krankheit und den Tod seiner Frau in dem Buch Mut und Gnade. Darin lässt er neben persönlichen Schilderungen auch etwas von seinen philosophischen Gedanken einfließen. Dadurch angeregt machte ich mich daran, Wilbers Arbeiten zu lesen. Es dauert eine Weile, aber dann begann mir zu dämmern, dass die Gewaltfreie Kommunikation ein großes Problem hatte.

Wilber befasst sich in seinem Werk unter anderem mit der Forschung zur Persönlichkeits- und Bewusstseinsentwicklung des Menschen. Dazu fasste er die Ergebnisse vieler Wissenschaftler zur psychologischen, moralischen, kognitiven und sozialen Entwicklung zusammen und versuchte, grundlegende Muster und Gemeinsamkeiten zu finden. Da die Zusammenfassung alle wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnisse integrieren sollte, nannte er sie »Integrale Theorie«. Nach Wilber beschreibt die Forschung verschiedene, aufeinander aufbauende Entwicklungsphasen des menschlichen Bewusstseins, der Wahrnehmung, Urteilsfähigkeit und Werteentwicklung. Auf jeder Ebene gilt es, die jeweils notwendigen Herausforderungen zu bewältigen. Jede Ebene bietet völlig neue Erkenntnisse und Fähigkeiten, wirft aber auch neue Probleme auf.

Meine erschreckende Erkenntnis

Durch Wilbers Arbeit erkannte ich, dass das grundlegende Problem mit der Gewaltfreien Kommunikation nicht in der Methode, sondern im Anwender liegt.

Heute erscheint mir diese Einsicht fast trivial, aber damals war sie ziemlich schockierend für mich. Denn ich musste erkennen, dass ich selbst Teil des Problems war. Nach Wilber zeigt jede der psychologischen Entwicklungsebenen des Menschen typische Schattenseiten und ich erkannte alle diese Schattenseiten in mir und anderen Anwendern der Gewaltfreien Kommunikation wieder. Das war ein Schock, denn Wilber hatte ja keinerlei Verbindung zur Gewaltfreien Kommunikation und dennoch hat er all die Fehlentwicklungen beschrieben, die mich auch zunehmend störten. Wie konnte das sein? Wie konnten Wissenschaftler und Philosophen etwas beschreiben, dass sie doch gar nicht kannten?

Die Methode der Gewaltfreien Kommunikation ist nicht das Problem

Aber dann dämmerte mir, wie gesagt, dass das Problem eben nicht in der Methode der Gewaltfreien Kommunikation liegt, sondern in meiner eigenen Wahrnehmung, Interpretation und Anwendung. Die Ursache der Fehlentwicklungen lagen in meiner Bewusstseinsentwicklung. Diese Erkenntnis hat mich anfangs ziemlich entmutigt und führte fast dazu, dass ich die Sache hingeschmissen hätte. Wenn die Gewaltfreie Kommunikation als Methode nicht wirklich hilft, wenn die Ursache für die Probleme, Konflikte und Herausforderungen in der Kommunikation gar nicht durch die vier Schritte gelöst werden können, sondern nur durch eine tiefer gehende Haltungsänderung, dann konnte ich es ja gleich sein lassen.

Meine schmerzliche Desillusionierung mit der Gewaltfreien Kommunikation dauerte über ein Jahr. In dieser Zeit beschäftigte ich mich intensiv mit der Forschung im Bereich der Bewusstseins- und Persönlichkeitsentwicklung. Langsam konnte ich sehen, dass die Gewaltfreie Kommunikation zwar nicht die Lösung aller Probleme bot, ich sie aber auch nicht aufgeben musste. Ich erkannte, dass wir menschliche Schattenseiten ernst nehmen und integrieren müssen. In der Verbindung von Gewaltfreier Kommunikation und psychologischer Entwicklungstheorie fand ich einen Fahrplan für die Entwicklung einer emphatischen, reifen und liebevollen Haltung. Damit hatte ich die Basis für eine Weiterentwicklung der Gewaltfreien Kommunikation gefunden.

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