Wo wird der Mensch noch benötigt?

Wenn man die ersten Skizzen entwirft für Unternehmen und Wirtschaft in der Nach-Corona-Zeit, zeichnet es sich bereits heute ab, dass Digitalisierung, autonome Systeme, Künstliche Intelligenz und virtuelle Welten die neue Zeit mehr prägen werden als je zuvor. Unternehmen werden mehr denn je austarieren, wie das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine in den Geschäftsabläufen aussehen muss. Eine Analyse von Klaus-Ulrich Moeller.

Ist der Mensch noch die wichtigste Ressource?

Genau diese Überlegungen werden erheblich zunehmen – ganz unabhängig davon, wie viel Menschlichkeit und Solidarität wir im Moment aufbringen müssen, um diese Krise in den Griff zu bekommen. Es wird nichts weniger zu Diskussion stehen als die Frage, ob der Mensch wirklich noch „die wichtigste Ressource“, das „wichtigste Kapital im Unternehmen“ darstellt, wie wir es in unseren Hochglanzbroschüren und Sonntagsreden so gerne behaupten. Und ob nicht diesen Platz unbarmherzig Daten, Robotic, intelligente selbstlernende Software, Sensorik und Künstliche Intelligenz einnehmen werden, die alle Bereiche durchdringen – vom Kundenkontakt über Fertigung und Produktion, von autonomer Logistik, Marketing und Controlling bis hin zu Tools, die Management-Entscheidungen immer stärker unterstützen.

Die neue Digitalisierung: Autonomous Staffless Organization?

Diese Entwicklung wird getrieben durch die Frage, welche Produktivitätsleistung den Menschen eigentlich noch von intelligenter Software unterscheidet. Das, was heute noch Digitalisierung heisst – die derzeit mehr schleppend als gut Einzug in unsere Firmen hält -, wird in einer nächsten Stufe ergänzt werden durch Überlegungen zur „Autonomous Staffless Organization“, dem „Ideal“ einer ganzheitlich autonom arbeitenden Einheit, die man noch Unternehmen nennen kann, die aber mit unseren klassischen Unternehmen, wie wir sie heute kennen, nicht mehr viel zu tun haben. Denken wir heute bei der Digitalisierung noch an eine Kooperation zwischen Mensch und Maschine, wird diese Diskussion ein neues Stadium erreichen, in der wir dem nahe kommen, was heute in den USA bereits vor allem im Finanzsektor existiert – den menschenfreien Firmen.

Diese Art der Unternehmensorganisation wird weder Standard werden noch ist zu erwarten, dass solche Entwicklungen gesellschaftlich weithin akzeptiert würden. Die „ASO“ wird zunächst als Modell für Krisenfälle entwickelt werden. Sie ist quasi der radikale Plan B für eine Firma. Unternehmen werden (und sollten) nach der Krise durchspielen, wie weit sie ihr Unternehmen so weit digitalisieren können, dass es im Krisenfall menschenunabhängig laufen kann. Könnten Produktion, Vertrieb, Logistik, Marketing und Zahlungsverkehr autonom nur durch Software, Robotic und automatisch agierende Fahrzeuge dargestellt werden? Und wo ist der Mensch weiterhin absolut unverzichtbar? In einem zweiten Schritt wird man die Risiken gegeneinander abwägen müssen: Welches Risiko schätze ich höher ein – dass mein durchtechnisiertes Unternehmen einer Cyberattacke zum Opfer fällt oder dass der Mensch in seiner Gesamtheit ausfällt? Und drittens folgt die Frage, wofür ich Verantwortung trage: Für eine reibungslose und kommerziell gewinnbringende Produktion; dafür, dass Menschen Arbeit haben; oder dafür, dass ich mit meinem Unternehmen etwas zum Wohlergehen der Welt beitrage? 

Der Mensch wird gebraucht – doch anders als heute

All das wird sich nicht von heute auf morgen vollziehen und es wird Branchen und Sektoren geben, in denen sich dieses Modell nicht umsetzen lässt. Und mindestens ebenso viele Branchen, in denen genau das Gegenteil passiert und in denen der Mensch dringlicher gebraucht wird denn je: Healthcare, Krankenhäuser, Pflegedienste, hochqualifizierte Experten in verschiedensten Bereichen der Forschung. Wir werden Menschen brauchen, die uns helfen, unsere Stabilität in dieser Welr zu behalten, psychosozial gesund zu bleiben (ein gewaltiger Wachstumsmarkt) und nicht zuletzt an uns selbst zu wachsen („Predictive Caring“). Und nicht zuletzt auch Menschen, die sich – heute und in der Zukunft – für die Rettung anderer einsetzen. All das darf niemals unterschätzt werden. Es werden sich unzählige Möglichkeiten ergeben, den Menschen eine sinnvolle Arbeit zu geben. Nur wahrscheinlich nicht dort, wo sie heute arbeiten.

In vielen Unternehmen wird in der Post-Corona-Zeit der Druck massiv zunehmen, diese neuen Produktivitätsreserven auszuschöpfen. Weil man vieles anders machen, weil man einfach  neu denken muss. Schon heute höre ich – ziemlich zynische, aber reale – Stimmen aus Unternehmerkreisen, dass der Mensch/Mitarbeiter sowieso eine ziemlich teure, unzuverlässige und arbeitsintensive Ressource darstellt. Und nur mit Solidarität, Empathie und Wiedersehens-Feiern von Mitarbeitern wird sich das neue Wachstum nach Corona nicht darstellen lassen. In vielen Produktionshallen arbeiten schon heute keine Menschen mehr. Kundendialoge finden über Bots statt, intelligente Software individualisiert Kundendaten und matched sie mit Produkten, die ein Mensch so exakt nie auszuwählen in der Lage wäre. Buchhaltung, Finanzabteilung, Controlling könnten schon heute vollständig digital aufgesetzt werden, und durch die technologischen Fortschritte werden sich diese Möglichkeiten exponentiell vervielfachen.

Zur neuen Wahrheit in Nach-Corona-Zeiten wird eben auch gehören, dass Transformation von Unternehmen und Wirtschaft neues radikales Denken hervorbringt, zu dem wir bis heute kaum in der Lage waren. Zunächst als Planspiel, wahrscheinlich bald darauf erstmals in der Realität. Die grundsätzliche Frage, welche Aufgaben der Mensch in seiner physischen und psychischen Verletztlichkeit im Produktions- und Geschäftsprozess noch spielen soll, wird zu den unangenehmen Diskussionen gehören, die die nächsten Jahre mit sich bringen. Das ist nicht zynisch gemeint, soll aber deutlich machen, welche schwierigen Entscheidungen auf uns zukommen werden. Ob wir diese Diskussion aushalten, ist eine offene Frage. Denn diese Entwicklung wird von Menschen und Mitarbeitern noch deutlich mehr Flexibilität verlangen als wir sie heute schon von ihnen abfordern.

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