Was ist wissenschaftlich?

Wer aktuell die Wissenschaft verfolgt, ist geneigt, verzweifelt den Kopf zu schütteln. Anders gesagt: Es müsste eher Verunsicherungsschaft heißen. Eine Studie jagt die nächst. Erkenntnisse stehen sich diametral entgegen und sie stehen vor allem im Konjunktiv.

Wie kommt Wissenschaft zu Erkenntnissen? Indem sie Vermutetes prüft. Dazu sammelt sie Daten, gestaltet eventuell Experimente, wertet aus und prüft dann, ob die zuvor aufgestellten Hypothesen einer Prüfung standhalten. Für all dies gibt es methodisch stringente Rahmenbedingungen. Dass Statistik gerne mal zynisch verunglimpft wird (vertraue nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast), muss jedem ernsthaften Methodiker wehtun. Man braucht nur einmal eines der mehrere Hundert Seiten langen Standardwerke durchzublättern, um zu erahnen, dass es gerade darum geht, Fehlschlüsse, unzulängliche Behauptungen und bloße Wunschergebnisse mit allen Mitteln zu verhindern. Es ist offensichtlich, dass der Begriff Statistik vollkommen unterschiedlich benutzt wird, so als würde man zwar Autofahren sagen, aber einmal einen Fahranfänger und ein anderes Mal einen Formel-1-Piloten meinen. Es macht aber einen großen Unterschied, ob man mit ein paar Zahlen um sich wirft, die man in manipulativer Absicht zusammengestellt hat, und dann abstruse Zusammenhänge verkündet, oder ob man mit präziser Methodik versucht, Hypothesen kritisch zu prüfen. Gigerenzer (2013) bedauert, dass wir statistisches Denken und vor allem das realistische Abschätzen von Risiken nicht schon in der Schule lernen. Schon Vierjährige – so schreibt er – können in Risikokompetenz geschult werden! So aber werden wir häufig hinters Licht geführt. Ein Beispiel (vgl. Gigerenzer 2013): 99 Prozent der an Prostata-Krebs Erkrankten, die sich einem Screening unterzogen haben, sind fünf Jahre später noch am Leben. Ohne Untersuchung sind es nur 68 Prozent. Klingt überzeugend. Aber bei einem Blick auf die Sterbestatistik verschwindet der Effekt fast vollkommen, weil (unerwähnt) unterschiedliche Altersgruppen verglichen wurden. Jetzt kommen auf 1000 Patienten zwei Tote ohne Screening und 1,6 mit Screening.

Sein-Sollen-Fehlschlüsse?

Dieser Fehler findet sich in der Managementliteratur alle naselang. Worin besteht er? David Hume (1711–1767) erklärte, dass man nicht aus dem, was man vorfindet, auf Normen schließen darf. Nur, weil etwas so ist, wie es ist, enthält diese Tatsache keinerlei Hinweis, keinerlei Empfehlung und keinerlei Forderung bezüglich dessen, was wir tun oder lassen sollen. Vom Sein kann man nicht aufs Sollen schließen.

»Bei jedem System der Moral, das mir bislang begegnet ist, habe ich stets festgestellt, dass der Autor eine gewisse Zeit in der üblichen Argumentationsweise fortschreitet und begründet, dass es einen Gott gibt, oder Beobachtungen über menschliches Verhalten trifft; dann plötzlich stelle ich überrascht fest, dass anstatt der üblichen Satzverknüpfungen, nämlich ›ist‹ und ›ist nicht‹, ich nur auf Sätze stoße, welche mit ›soll‹ oder ›soll nicht‹ verbunden sind. Diese Änderung geschieht unmerklich. Sie ist jedoch sehr wichtig. Dieses ›soll‹ oder ›soll nicht‹ drückt eine neue Verknüpfung oder Behauptung aus. Darum muss sie notwendigerweise beobachtet und erklärt werden. Zugleich muss notwendigerweise ein Grund angegeben werden für dies, was vollständig unbegreiflich erscheint: Wie nämlich diese neue Verknüpfung eine logische Folgerung sein kann von anderen, davon ganz verschiedenen Verknüpfungen … Ich bin der Überzeugung, dass eine solche geringfügige Aufmerksamkeit alle gewohnten Moralsysteme umwerfen würde. Sie würde uns außerdem zeigen, dass die Unterscheidung von Laster und Tugend nicht nur auf den Verhältnissen von Objekten gründet und auch nicht mit der Vernunft wahrgenommen wird.« (Hume)

Hume hätte vermutlich argumentiert, dass man Forderungen nicht mit Tatsachen begründen kann. Ich vertrete hier eine gemäßigtere Position 11: Man muss sehr sorgfältig prüfen, wann es gerechtfertigt sein kann, aus deskriptiven Daten Empfehlungen abzuleiten. Das kann in Ordnung sein, kann aber auch zu gravierenden Fehlschlüssen führen.

Ein Beispiel: Statistiken zeigen, dass man im Vertrieb deutlich mehr extravertierte Menschen findet als introvertierte. Also könnte man ein Assessment-Center so ausrichten, dass es die extravertierten Bewerber bevorzugt. Das aber wäre nicht korrekt. Denn untersucht man den Erfolg extravertierter und introvertierter Vertriebsmitarbeiter, so stellt man fest, dass die Verteilungen innerhalb der beiden Subgruppen gleich sind. Wenn es bei den Extravertierten 10 Prozent sehr Erfolgreiche gibt, dann gibt es auch bei den Introvertierten 10 Prozent sehr Erfolgreiche.

Gegenbeispiel: Wenn man sich die Zähne nicht regelmäßig putzt, bekommt man mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit Karies. Hier enthält die Beschreibung des Befundes selbst bereits einen Hinweis auf vernünftiges Verhalten.

Wenn wir also von wissenschaftlichen Belegen für oder gegen bestimmte Verhaltensweisen hören oder lesen, dann gilt es, zweimal nachzudenken: Rechtfertigen die Daten den Appell an das Handeln oder nicht. Wir würden demnach heute sagen, dass der Schluss vom Sein auf das Sollen, vom Befund zur Empfehlung, von der Statistik zum Rat kein grundsätzlicher Fehlschluss ist. Immer wenn die Erkenntnisse selbst a) logisch und methodisch korrekt erhoben sind und sie b) klar zeigen, dass wir einen Nachteil für uns abwenden oder einen ethisch vertretbaren Vorteil für uns ableiten können, dann sind diese Schlüsse haltbar. Nicht aber, wenn gefordert wird, wir sollten etwas tun, weil es die meisten tun. Einen post-faktischen Behauptungsbrei brauchen wir nicht zu akzeptieren und schon gar nicht, wenn Fakten ignoriert oder – man verzeihe mir das Oxymoron – erfunden werden.

Wir regeln unser Leben dadurch, dass wir uns Gesetze und Normen geben, wir sind dazu in der Lage, uns moralische Fragen zu stellen. Wir diskutieren Fragen des Sollens. Wir, das heißt als Einzelne, als Gruppen, das heißt qua Politik und Meinungsbildung. Dabei sind wir gut beraten, die vorliegenden Fakten in unseren Diskurs einzubeziehen. Wir müssen sogar alles daransetzen, dies zu tun, sonst degenerieren Bewertungen zu bloßen Behauptungen und werden so zum Nährboden von gefährlichen Ideologien.

Ein interessantes Beispiel liefern die Begründungen nach dem Best-Practices-Prinzip. Was funktioniert hat, muss gut sein; das klingt doch plausibel!

Wir haben unserem Vertrieb sehr ehrgeizige Ziele vorgegeben und keine Diskussion zugelassen. Wir haben die Ziele fast erreicht. > Es ist gut, ehrgeizige Ziele vorzugeben und keine Diskussion zuzulassen.

Prämisse 1 und 2 beschreiben Fakten. Der implizierte Wirkzusammenhang beruht auf rein suggestiver Strahlung. Man kann daraus nur schließen, dass die ehrgeizigen Ziele die Zielerreichung nicht verhindert haben. Mehr nicht. Das ist einer der klassischen Fehlschlüsse: Weil es nach X geschehen ist, muss X die Ursache gewesen sein (post hoc ergo propter hoc). In der Konklusion taucht dann zusätzlich noch die Bewertung auf, und es wird im wahrsten Sinne des Wortes unbedacht von Sein auf Sollen geschlossen. Vieles klingt so gut, dass wir es nicht mehr auf logische Konsistenz prüfen. Erst wenn wir den Schlussmodus ad absurdum führen, beispielsweise indem wir andere Inhalte einsetzen (wie im Krawatten-Beispiel), wird der Fehler klar.

Die »Fakten«-Falle

Oder Präzisionsfalle (Edmüller/Wilhelm 2012). Viele Autoren der Managementliteratur versuchen, ihre Leser dadurch einzunehmen, dass sie die Akribie beschreiben, mit der sie bei der Faktensammlung zu Werke gegangen sind. Collins (2011) Der Weg zu den Besten mag hier als Beispiel dienen. Es ist alleine schon mutig, ein Buch, das im Original 2001 erschienen ist, 2011 als Neuigkeit auf den Markt zu bringen, ohne – wie gesagt – die Börsendesaster von 2001 und 2008 zu erwähnen. Collins erzählt uns hier über viele Seiten hinweg, dass zehn Jahre Recherche, intensives Studium der verfügbaren Artikel und Hunderte von Gesprächen hinter ihm lägen. Außerdem macht sich der Autor die Mühe zu jedem der erfolgreichen Unternehmen einen Zwilling aus der Vergangenheit (selbe Branche, selbe Größe, selbe Chancen) zu suchen, der es aber nicht gepackt hat. Wow, denken wir: ein kluger Ansatz! Das klingt doch nach fundierter Wissenschaft. Daraus leitet Collins die sieben Management-Prinzipien ab. Und wären die Fakten noch so gründlich gesammelt, – wir haben es mit einem wackeligen Sein-Sollen-Fehlschluss zu tun. Zudem erweisen sich die sogenannten Fakten schon als fragwürdig. Denn die Recherche umfasste Publikationen aller Couleur, wie Business Week, Wall Street Journal, Nation’s Business, New York Times bis hin zu Firmenbroschüren und Videopräsentationen (vgl. Rosenzweig 2008). Die Faktenbasis aber ist zum großen Teil selbst schon mit Vorbewertungen durchsetzt, wenn Sie von der Performance auf Erfolgsfaktoren schließt.

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