Vorsicht Satire – Kultige Rituale in urbanen Höhenlagen

Unlängst gelang es einem unserer Expeditionsteams bis in die unwirtlichen und dünn besiedelten Regionen urbaner Chefetagen vorzudringen und Leben und Brauchtum der Bewohner unmittelbar zu erforschen. Dabei stießen die Forscher neben Spuren des verbreiteten Glaubens an die Dreifaltigkeit von Logik, Rendite und Shareholder Value auf einen im Verborgenen praktizierten Kult, zu dem sich die Bewohner der Chefetagen hin und wieder sogar öffentlich bekennen.

Die Rede ist von einer sogenannten ‘Kreativität’. Die Anhänger dieses Kultes glauben an die Erschaffung eines nicht näher definiertem „Neuen“ und glauben, dass durch Kreativität nie dagewesene Ideen wie Manna vom Himmel regnen.  Einer ihrer Mythen besagt, dass der heilige Geist der Kreativität in der rechten Hirnhälfte des Gläubigen zu finden sei und dort  beschworen werden könne, vorzugsweise unter symbolischer Opferung der Rationalität durch eine vorübergehende, vollständige Ausschaltung des Verstandes.

Statt Finanzströmen werden nun Blutströme gelenkt, mitten in die wehrlose rechte Hirnhälfte.

Und statt sich taufen zu lassen, lässt man sich inspirieren, denn Inspiration ist die Infusion des Ideenreichtums. So wird Kreativität zwar verehrt und gefordert, aber – wie  bei Gläubigen jeglicher Couleur üblich – nur ungern praktiziert. Vielleicht weil ein weiterer beliebter Mythos der Kreativität der der eigenen Unkreativität ist.

Daher begeben sich nun verdiente Entscheidungsträger mit ernsten Gesichtern und festem Vorsatz zur Höchstleistung in die Hände von Hohenpriestern der Kreativität, die ihnen mit  erschreckenden Ritualen wie „Brainstormings“, „Aufstellungen“ und „Negativmethoden“ versuchen den Verstand zu rauben.

Rituale schaffen Teamgeist, sind eindrücklich, manchmal auch wirksam, und vor allem beruhigend – vom Kleinkind bis zum Aufsichtsrat. Aber führt dieser Weg zu mehr Kreativität?  Kreativität ist kein Ritual und keine Technik zur mystischen Offenbarung einer genialen Idee, sondern die notwendige Ergänzung zum logische Denken. Wo dieses versagt, setzen Sie automatisch ihre Kreativität ein: wenn Ihnen konkreten Informationen oder Erfahrungen fehlen, oder wenn Sie sich einen Überblick über komplexe oder in ständigem Wandel befindliche Zusammenhänge verschaffen. Sei es beim Manövrieren in einer Menschenmenge, beim Pläne schmieden oder dem Erfinden einer glaubwürdigen Ausrede. Kreativität gehört zur serienmäßigen Ausstattung der Gattung Mensch – jeder kann sie entwickeln und sie in den beruflichen Alltag implantieren. Vielleicht nicht ohne Hilfe, aber sicher ohne Hokuspokus.

Damit sind wir bei der erstaunlichsten Entdeckung unsrer Expedition. Bekanntlich verdient man besonders gut, wenn man Menschen Dinge verkauft, die sie gar nicht brauchen. Aber es ist ein Geniestreich und sehr kreativ, Menschen Dinge zu verkaufen, über die sie selbst im Überfluss verfügen.

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