Selbstmanagement der Teammitglieder fördern

Welcher Scrum Master kennt es nicht: Alle reden von Selbstmanagement in agilen Teams und wie toll diese neue Selbstverantwortung ist. Im eigenen Team hat man dann aber immer das Gefühl, dass am Ende doch wieder alles an einem selbst als quasi Projektleiter und -antreiber hängen bleibt. Von Selbstmanagement gibt es keine Spur.

Wieso auch? Wenn ich mich einbringe und womöglich eigene Entscheidungen treffe, dann bringe ich mich nur in Gefahr, ins Scheinwerferlicht zu kommen. Und wenn es dann schief geht, bin ich am Ende der Blöde. Also halten sich Menschen lieber zurück und lassen gerne die anderen machen. Das ist nachvollziehbar.

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Das ist aber nicht die Idee von agilem Arbeiten. Wenn du mit deinem Scrum Team erfolgreich sein willst, dann wird das nur dann klappen, wenn du deine Teammitglieder dazu bekommst, das Zepter selbst in die Hand zu nehmen. Nur so kann auf Dauer ein agiles Team bestehen und die versprochenen Vorteile gegenüber klassischen Arbeitsweisen in der Realität auch erreicht werden. Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Am Ende gibt es aber auch hierfür Lösungen. Welche das sind, erzähle ich dir in diesem Kapitel.

Das Goldfisch Problem

Vor ein paar Jahren traf ich bei einem meiner Trainings auf eine Führungskraft in einem Großkonzern. Sie beklagte sich bitterlich, dass ihre Mitarbeiter mit der neuen, agilen Arbeitsweise überhaupt nicht klarkommen würden. Sie würden teilweise völlig irrationale Entscheidungen treffen und sich überhaupt extrem schwertun, mit der neu gewonnenen Entscheidungsfreiheit beim selbstorganisierten Arbeiten. Das Ende vom Lied war, dass der betroffen Konzernbereich immer mehr in Richtung Chaos abrutschte. Von den versprochenen und erhofften Vorteilen einer agilen Arbeitsweise war weit und breit keine Spur.

Im weiteren Gespräch stellte sich heraus, dass die dortige vorgenommene agile Transformation primär daraus bestanden hatte, alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf ein zweitägiges Scrum-Training zu schicken. Man war wohl der Meinung, dass das völlig ausreichend wäre. Eine Begleitung der ersten Projekte durch einen erfahrenen Berater war nicht Teil des Budgets. Für mich war relativ schnell klar: Diese Firma war dem Zombie-Goldfisch-Problem zum Opfer gefallen.

Der Zombie-Goldfisch ist eine Metapher, die ich sehr gerne verwende, um bildlich darzustellen, in welcher Zwickmühle viele traditionell geführte Unternehmen stecken. In den vergangenen Jahren konnte man sehr schön beobachten, dass die Anzahl von Prozessen und Regeln in diesen Unternehmen rapide gestiegen sind. Man könnte sagen, dass man aus Angst vor Fehlern dazu übergegangen ist, die eigenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wie Goldfische zu behandeln.

Ein Goldfisch hat in seinem Glas nur einen sehr begrenzten Gestaltungsspielraum. Er hat kaum Bewegungsfreiheit und wird rund um die Uhr umsorgt. Er muss sich um nichts kümmern oder etwas entscheiden. Alle Entscheidungen werden ihm abgenommen. Lässt man einen solchen Goldfisch lange genug in seinem Glas, entwickelt er sich zum Zombie-Goldfisch. In manchen Firmen kann man förmlich sehen, wie das Personal morgens seine Gehirne an der Pforte abgibt, um sich sklavisch an die geltenden Regeln und Prozesse zu halten. Am Ende folgt man den festgelegten Prozessen selbst dann, wenn man weiß, dass diese nicht zum gewünschten Ergebnis führen – allein schon aus Angst, für eventuelle Fehler bestraft zu werden. Sollte etwas schief gehen, kann man immer sagen, man hat sich genau an den Prozess und die Vorgaben gehalten und ist fein raus.

Und jetzt stell dir vor, du schnappst dir diesen Zombie-Goldfisch und wirfst ihn in den Ozean. Wie lange wird der kleine Goldfisch wohl in der großen, weiten Welt überleben, bis er verhungert oder gefressen wird? Mit hoher Wahrscheinlichkeit musst du darauf nicht allzu lange warten.

Genau das passiert aber, wenn ich mein Personal, das ich über Jahre und Jahrzehnte in Goldfischgläser gepackt habe, ohne viel Federlesens in den agilen Ozean werfe. Sind Menschen in dieser Art konditioniert, dann können sie nur hoffnungslos scheitern! Dafür, dass sie gar nicht anders können, sollen sie auch noch die Verantwortung übernehmen, denn an den Führungsspitzen kann es ja niemals liegen. Ein solches Vorgehen ist nicht sehr clever und in meinen Augen auch noch absolut verantwortungslos.

Werde kein Zombie-Goldfisch

Okay, ich glaube die Metapher ist jetzt klar. Selbstverständlich wird es auch den ein oder anderen Goldfisch geben, der sich sofort im großen, agilen Ozean zurechtfindet. Das ist aber eher die Ausnahme.

Wie gehst du also richtig vor? Ganz einfach: Baue doch erst einmal ein größeres Aquarium. Dort hat der Goldfisch dann schon mehr Freiraum und mehr Möglichkeiten. Hat er sich an die neue freiere Umgebung gewöhnt, ist es Zeit für das nächstgrößere Aquarium, bis er am Ende bereit für die endlosen Weiten eines Ozeans ist.

Ein Beispiel: Nehmen wir an, das Thema Homeoffice, bisher in deinem Unternehmen verboten war. Mittlerweile hat man aber eingesehen, dass es auf dem Arbeitsmarkt immer wichtiger wird, den eigenen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen eine gewisse Flexibilität zu gewährleisten, um weiterhin attraktiv zu bleiben. Gleichzeitig will man sich natürlich auch auf dem Arbeitsmarkt im sogenannten War for talents durchsetzen. Eine blöde Idee wäre es jetzt, den Mitarbeitern von einem Tag auf den anderen, die völlige Freiheit über ihren Arbeitsort und ihre Arbeitszeit zu gewähren. Nicht nur, dass die meisten damit nicht klarkämen, auch der Missbrauch dieser Freiheit wäre vorprogrammiert. Sinnvoller wäre es, erst einmal die Möglichkeit anzubieten, in Absprache mit dem Vorgesetzten, einen Tag pro Woche zu Hause zu arbeiten. Wenn sich dieses Konzept bewährt hat, kann man die nächsten Freiräume gewähren, bis man am Ende einen ROW (Result Oriented Workplace) hat. Bei einem ROW ist es völlig egal, wann und wo man arbeitet, Hauptsache die Ergebnisse stimmen.

Aber wie lässt sich dieses Bild jetzt auf ein agiles Scrum Team übertragen? Erst einmal ist es wichtig, sich klarzumachen, dass es dieses Problem gibt. Als Scrum Master ist es neben anderen Dingen auch deine Aufgabe, die Goldfische im Team zu identifizieren, die sich weiterhin an ihre Goldfischgläser klammern. Hier ein paar typische Anzeichen für typisches Goldfischverhalten:

  • Ein Scrum Team Mitglied, das zu dir kommt und wissen möchte, welche Aufgabe am Sprint Backlog als nächstes abgearbeitet werden soll.
  • Ein Teammitglied, dass sich in der Retrospektive nie zu Wort meldet und sich kaum beteiligt.
  • Ein Teammitglied, dass sich ständig über alles aufregt, aber nichts daran ändert.
  • Ein Teammitglied, welches sich ständig absichert, bevor es eine Entscheidung trifft.

Ich bin sicher, dir fallen gleich ein paar Leute ein, die auf die obige Beschreibung passen oder du kannst die ein oder andere Geschichte erzählen, in der ein Goldfisch vorkommt. Das Gute an Goldfischen, sie können wachsen. Die wenigsten sind hoffnungslose Fälle, auch wenn sich das vielleicht am Anfang so anfühlt. In den nächsten Kapiteln gebe ich dir ein paar Tools an die Hand, wie du mit den kleinen Zombies umgehst. Los geht es mit der Zombiejagd.

Selbstmanagement

Bestimmt ist dir schon der Begriff Selbstorganisation in die Hände gefallen und vielleicht fragst du dich, worin denn der Unterschied zu Selbstmanagement zu sehen ist. Der Unterschied ist zumindest so groß, dass der Begriff »Selbstorganisation« im Scrum Guide Update (Scrum Guide 2020) im November 2020 dem Begriff »Selbstmanagement« gewichen ist.

Selbstorganisation ist eigentlich nichts Besonderes und begegnet uns überall den ganzen Tag. Wenn du zum Beispiel in den Supermarkt gehst, wirst du feststellen, dass sich dort alle Kunden selbst organisieren. Der Supermarkt gibt klare Regeln vor, wie zum Beispiel, wo es rein geht, dass man die Ware in seinen Einkaufswagen legt und am Ende an der Kasse bezahlt. Innerhalb dieser Regeln organisieren die Kunden ihren Einkauf selbst. Niemand wird von einem Supermarktmitarbeiter begleitet, der einem sagt, was du zu tun oder zu lassen hast. Das gleiche passiert im Verkehr. Die Straßenverkehrsordnung gibt die Regeln vor und die Verkehrsteilnehmer organisieren sich selbst. In der Regel funktioniert das gut, auch wenn es immer wieder den einen oder anderen Unfall gibt.

Selbstmanagement geht einen Schritt weiter. Hier werden die Systemgrenzen nicht einfach akzeptiert, sondern aktiv mitgestaltet. Scrum Teams sind also nicht nur einfach passive Teilnehmer in einem vorgegebenen System, innerhalb dessen sie sich selbst organisieren dürfen. Von einem Scrum Team wird auch erwartet, dass es sein Umfeld mitgestaltet und gegebenenfalls verändert. Wenn ein Team in einer Retrospektive ein Problem identifiziert, dass das Team in seiner Arbeit behindert, werden Maßnahmen ergriffen, die Arbeitsweise entsprechend anzupassen. Nur weil man etwas schon immer so gemacht hat, heißt das nicht, dass wir es nicht ändern dürfen und können. Im Gegenteil, genau das wird von uns sogar erwartet. Das können kleine Änderungen im Vorgehen des Teams sein, aber auch Anpassungen von Prozessen und sogar von Strukturen im Unternehmen. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass das ein Kinderspiel ist, aber ohne einen echten Willen zur Veränderung funktioniert agiles Arbeiten nicht. Ein Scrum Team, das nach einem Jahr noch genau gleich arbeitet, das genau die gleichen Regeln anwendet, hat Scrum nicht verstanden und wird wenig von den versprochenen Vorteilen des agilen Arbeitens profitieren.

Psychologische Sicherheit

Ohne Vertrauen kann kein richtiges Team entstehen. Das ist der Grund, warum das Thema psychologische Sicherheit jetzt schon zum dritten Mal in diesem Buch auftaucht. Es ist einfach zu wichtig, um es zu ignorieren und doch ist das leider noch immer viel zu häufig der Fall. Für mich ist psychologische Sicherheit die Basis von allem und gleichzeitig der Kitt, der alles zusammenhält. Ein erfolgreiches Team steht und fällt mit psychologischer Sicherheit. Das weiß man nicht erst seit heute, sondern schon seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar seit Jahrhunderten. Die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen zu dem Thema gab es schon in den 1960er-Jahren und dennoch hat es ewig gedauert, bis es auch in der agilen Community angekommen ist. Ich kann gut verstehen, dass man sich nach einfachen Lösungen sehnt. Und gerade Scrum sieht auf den ersten Blick einfach aus, aber am Ende steht und fällt alles mit dem Faktor Mensch.

Es wäre schön, wenn man psychologische Sicherheit einfach per Knopfdruck herstellen könnte, doch leider ist das nicht so einfach. Sie ist aber eine Grundvoraussetzung, wenn ich die Goldfische aus den Aquarien holen möchte oder bereits verwandelte Zombies zurückverwandeln möchte. Somit ist auch Selbstmanagement ohne psychologische Sicherheit undenkbar. Eine deiner Hauptaufgaben als Scrum Master ist es, dafür zu sorgen, eine psychologisch sichere Umgebung zu schaffen, in der jedes Teammitglied sein volles Potenzial ausschöpfen kann und möchte. Gleichzeitig wird das vermutlich auch deine herausforderndste Aufgabe, da das Thema eng mit den Themen Unternehmenskultur und agiler Führung verbunden ist. Leider gibt es aber weder für den Bereich Unternehmenskultur noch für echtes agiles Führen einen Quick Fix, sorry.

Sind wir hier sicher?

Wenn du dir unsicher bist, wie es um die psychologische Sicherheit in deinem Team bestellt ist, solltest du mit einer kleinen, teaminternen und anonymen Umfrage starten. Ein guter Platz dafür ist wie immer eine Retrospektive.

Diese Umfrage besteht aus vier Fragen, die ich in abgewandelter Form von Paul O’Neill übernommen habe, dem früheren CEO von ALCOA, einem Unternehmen, das in den USA Aluminium gefertigt hat:

  1. Werde ich täglich mit Respekt und Würde behandelt, ganz egal welchem Geschlecht, welcher Nationalität, welcher Rasse, welcher Ausbildung, welchen Rang oder anderer Dinge ich angehöre?
  2. Bekomme ich alles, was ich benötige (Training, Ausbildung, Werkzeuge und Förderung), sodass ich einen guten Job machen kann, der meinem Leben auch Sinn gibt?
  3. Kann ich jederzeit meine Ideen einbringen, Bestehendes hinterfragen und Fehler machen, ohne Angst haben zu müssen, dass ich dafür in irgendeiner Form bestraft werde?
  4. Habe ich das Gefühl, dass ich jeden Tag jemanden benennen kann, der sich für mich interessiert und mir regelmäßig bedeutsame, aufrichtige Anerkennung gibt?

Lasse jedes Teammitglied die Frage auf einer Skala von eins bis zehn beantworten und übertrage die Ergebnisse auf ein Flipchart. Die Ergebnisse sind dann ein guter Start in eine Diskussion, zum Beispiel warum ihr bei manchen Fragen so weit auseinander liegt oder warum ihr euch vielleicht in einem Bereich besonders einig seid. Welche Geschichten könnt ihr erzählen, die das Ergebnis unterstreichen? Was könntet ihr als Team machen, um euch in einem oder zwei der Bereich zu verbessern? Die Ergebnisse sind auch eine gute Grundlage für eine gemeinsame Team Charta.

Schon allein an der Offenheit der Teammitglieder, diese Themen zu diskutieren, kannst du ablesen, wie es um dein Team gestellt ist. Tut ihr euch aktuell noch schwer, dann ist das definitiv eine Baustelle, an der ihr noch arbeiten müsst. Habt ihr von Anfang an eine offene, wertschätzende Diskussion, bei der jeder zu Wort kommt, dann seid ihr vermutlich schon auf einem sehr guten Weg.

Zusätzlich kann es helfen, mit der Las Vegas Regel zu arbeiten. Wenn du schon einmal in Las Vegas warst, kennst du diese Regel sicher: »What happens in Vegas, stays in Vegas!«. Man vereinbart als Team, dass alle Themen, die in einem Workshop oder einer Retrospektive besprochen werden, im Raum bleiben und nur nach außen getragen werden dürfen, wenn alle zustimmen. Das ist eine relativ einfache und doch mächtige Methode, um einen sicheren Raum zu schaffen, in dem sich alle vertrauen und daher es wagen, offen zu sprechen.

In Retrospektiven bietet es sich dann noch an, mit der sogenannten Prime directive zu arbeiten (Kerth 2001). Zusammengefasst beschreibt diese direktive, dass alle Anwesenden ihr Bestes gegeben haben und niemand hier ist, der absichtliche Fehler macht oder das Team sabotiert. Sie hilft dabei, das bekannte Blaming and Finger Pointing von Anfang an abzustellen und eine wohlwollende Atmosphäre zu schaffen, in der alle nur das Ziel haben, zukünftig eine Umgebung zu schaffen, in der weniger Fehler passieren, ganz unabhängig davon, wer einen Fehler macht.

Definition: Prime directive

Manche Tage sind besser als andere. An manchen Tagen bin ich im Flow und leiste herausragende Arbeit. An manchen Tagen realisiere ich am Ende des Tages, dass ich eine Menge Zeit verschwendet habe, Fehler gemacht habe, die ich hätte voraussehen können oder bei denen ich manches anders hätte machen können. Ungeachtet dessen, dass es diese Tage gab, ist unser Ziel hier, diese Fragen zu beantworten: Was können wir aus unseren vergangenen Taten und Gedanken lernen, dass unsere zukünftigen Taten und Gedanken beeinflusst, sodass wir etwas besser werden? Wie können wir unsere Umgebung verändern (das System), sodass es uns einfacher fällt, herausragende Arbeit zu leisten, und es weniger wahrscheinlich ist, dass wir unsere Zeit verschwenden und Fehler machen?

All diese Dinge helfen dabei einige große Schritte in Richtung psychologische Sicherheit zu machen.

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