Körperliche Fitness ist ein seit Jahren anhaltender Trend. Mit Diäten und Fitnesstraining wird der Körper in Form gebracht und das ist das Aushängeschild für Biss und Erfolg. Dagegen führen die kognitiven Leistungen ein Schattendasein. Denn einen fitten Geist den sieht man nicht – erst einmal. Dabei lässt sich das Köpfchen leichter trainieren als der Körper wie unser Autor Miachel Kühl-Lenjer zeigt.
Wir wollen auch so behandelt werden: als Individuen. Deswegen kann man uns mit Vergleichen beleidigen. „Nachbars Erika setzt sich aber jeden Nachmittag zwei Stunden hin und lernt.“ „Das ist ja typisch für deine Altersgruppe.“ „Männer können nicht zuhören.“ „Du bist wie deine Mutter!“
Wenn wir andere beurteilen – das zeigen die Beispiele – dann sind wir nicht so zimperlich. Auf Differenzierungen, wie wir sie für uns selbst gerne hätten, verzichten wir dann gerne. „Immer macht sie das und das!“ „Nie bedenkt er, dass …“ „Er ist doof, sie ist faul.“ Vielleicht aber auch im Positiven: „Das macht sie toll.“ „Er ist intelligent.“ Schließlich dient ja unser Wahrnehmungssystem tatsächlich dazu, die Fülle an Reizen zu reduzieren. (Die Sinnesorgane liefern etwa 11 Millionen Bit pro Sekunde, die Bandbreite des Bewusstseins aber umfasst nur 16 bis 40 Bit pro Sekunde.) Womit wir bei den Boxen (Schubladen) wären, in die wir andere gerne stecken.
Unternehmen und damit ihre Führungskräfte sollen Mitarbeiter beurteilen. Das 9-Boxen-Modell scheint recht beliebt. Keiner weiß mehr, wer es wirklich erfunden hat, aber es geistert seit 1997 herum. Ein solches Schubladendenken sollte uns irritieren
Nach rechts gibt es drei Stufen für die Leistung (unterdurchschnittlich, durchschnittlich, überdurchschnittlich), nach oben drei für das Potenzial („Limited“, „Moderate“, „High“). Macht 9 Boxen. Vorgesetzte sollen ihre Mitarbeiter jeweils nun in eine dieser 9 Boxen stecken. Das erinnert an die Gepflogenheiten des Herrn Prokrustes der griechischen Mythologie, der seinen Übernachtungsgästen mit einem Beil die Füße kürzte, wenn sie zu groß für das angebotene Bett waren, sie aber gewaltsam in die Länge zog, wenn sie zu klein waren. 9 Boxen! Das sind weniger als 12 Sternbilder! Wir schnippeln die Individualität weg, weil sie nicht ins Messmodell passt. Was aber, wenn wir es mit einem exzellenten Läufer zu tun haben, der kein besonders guter Werfer ist? Die Lösung: Wir haben einen mittleren Sportler vor uns. Facebook hätte allerdings eine Idee, wie’s noch einfacher ginge: like oder dislike
Warum uns Schubladendenken irritieren sollte:
- Wir vereinfachen die schillernde Vielfalt, in der sich Menschen ins Unternehmen einbringen; Stärken und Schwächen – worum es ja eigentlich gehen sollte – werden der falschen Anwendung einer Mittelwertslogik geopfert. (3 Fahrräder + 2 Orangen + 4 Hochhäuser. – Mittelwert = 3)
- Nur differenzierte Rückmeldung kann Wirkung entfalten. Diese geht im Rechtfertigungsversuch einer Box-Einteilung erfahrungsgemäß unter.
- Eines der menschlichen Ur-Bedürfnisse – als Individuum behandelt zu werden (siehe oben) – wird auf krasse Weise verletzt. Man erlebt so Abwertung.
- Sitzt man nicht rechts oben, dann ist Demotivation die wahrscheinlichste Reaktion.
- Die Skalierung in der Mitte wird als Kränkung erlebt, als Rückmeldung, man sei Mittelmaß. Die routinemäßigen heruntergespulten Begründungen machen’s nicht besser. (Das kennen wir auch von anderen Skalierungen: „Nein, nein, Sie sehen das falsch: Drei auf unserer Fünferskala, das heißt, dass Sie alle Anforderungen erfüllen, also ähm hundert Prozent.“)
- Die Zahl suggeriert Genauigkeit, ist aber – schon wegen des radikalen Reduktionismus – nur pseudo-objektiv. (Zur Gehaltsfindung taugt sie daher nicht.)
Zu solchen Boxen sage ich stop! Man schätzt, dass die deutsche Sprache über 100.000 Wörter verfügt. Den Populisten werfen wir Simplifizierungen vor, im Führungsgeschehen sollten sie gar keinen Platz finden! Wir brauchen mehr als 140 Zeichen oder 9 Boxen. Die Herausforderung besteht darin, miteinander zu sprechen, Differenzierungen zuzulassen, Widersprüchliches auszuhalten und gemeinsam um Ergebnisse zu ringen. Das wird es nicht einfacher machen. Eben!
Der Diplom-Psychologe Heinz Jiranek arbeitet seit über 30 Jahren als Coach. Kommunikation und Führung sind seine Themen. Dabei fokussiert er immer auf die Wirkung, nicht auf das Rezept. Denn die schnelle Lösung ist ihm suspekt. Sie liefert nur eine Schein-Sicherheit. Eine Erkenntnis aus seiner beruflichen Herkunft als Therapeut, die ihn bis heute begleitet.