Quickshot -Wie Sie drauf reinfallen

Ob Kotzbrocken oder Sympathieträger ist schnell entschieden. Wir neigen dazu Menschen in Bruchteilen von Sekunden zu beurteilen. Sie machen sowas natürlich nicht? Sie beurteilen Menschen nicht nach Oberflächlichkeiten? Doch, machen Sie! Denn sonst hätten schon die Neandertaler Ihre Sippe ausgerottet – der Quickshot ist überlebenswichtig – aber nicht ungefährlich.

Mit diesem Phänomen beschreibt man den Umstand, dass wir dazu neigen, Menschen sehr schnell zu beurteilen. Oft zu schnell. Dabei spielt es witzigerweise fast gar keine Rolle, was dieser Mensch zu uns sagt. Oder wie er es uns sagt. Kann er einen Sachverhalt gekonnt kommunizieren? Spricht er gut? Stimmen alle andere Elemente guter Kommunikation? Sieht er „sauber und ordentlich“ aus? Völlig egal. Oft genügt ein einziger Blick – der andere hat noch nicht einmal den Mund aufgemacht – schon beurteilen wir ihn. Das ist in der weitaus größten Zahl dieser Begegnungen unspektakulär. Selten lehnen wir jemanden ganz spontan ab. Oder umgekehrt – selten finden wir jemanden auf Anhieb dermaßen sympathisch, dass wir ihm zu viel Kredit geben. Meistens liegen unsere Mitmenschen in einem sehr breiten Band des Wohlwollens. Ich schätze, dass wir am oberen Rand (sehr sympathisch) und am unteren Rand der Skala (sehr unsympathisch) sicher weniger als 5 Prozent der Menschen einordnen. Es kommt gar nicht so häufig vor, dass wir jemand spontan ablehnen oder ihm spontan zujubeln. Wir reden hier also über Ausnahmen. Aber diese Ausnahmen können uns zum falschen Zeitpunkt großes Kopfzerbrechen bereiten und unser Urteil stark trüben. Jetzt spricht dieser Mensch mit uns. Wir haben ihn (unbewusst) aber bereits nach Sekunden als „unsympathisch“ eingestuft. Noch bevor er überhaupt ein einziges Wort geredet hat. Sofort bewerten wir seine Aussagen auf dieser Grundlage. Ist er ein „fieser Möpp“ – wie man in Köln sagt –, glauben wir ihm erheblich weniger, sind überkritisch und neigen zu Widerspruch. Wahlweise schalten wir auch gerne auf Durchzug.

Heiße Tassen im Fahrstuhl

Im privaten Umfeld können (und sollten) wir uns das jederzeit erlauben. Warum auch müsste ich mir ständig Mühe geben, den „Sender vom Empfänger“ zu trennen? Es gibt doch genügend sympathische Menschen? Und im privaten Bereich tue ich gut daran, eben NICHT ständig herumzupsychologisieren. Wäre viel zu anstrengend. Im beruflichen Umfeld sieht das schon etwas anders aus. Bei wichtigen Entscheidungen völlig anders. Wichtig ist aber noch einmal diese vertrackte Angewohnheit, eine „Klassifizierung“ im Nachhinein sehr schnell zu rationalisieren. Da ist es eben die „komische Krawatte“ oder der „seltsame Hut“. Fragt man Menschen zum Beispiel im Nachhinein nach dem Grund Ihrer Ablehnung, sagt kaum jemand: „Na ja – ich finde ihn eben blöd. Basta.“ Wir möchten immer als Menschen wahrgenommen werden, die nicht subjektiv – oder nach „Gefühl und Wellenschlag“ entscheiden. Wir geben selten zu – fast nie – dass unsere Emotionen unseren Verstand dominieren. Man will ja nicht als „Gefühlsnudel“ betrachtet werden. Okay – manche kokettieren gerne mit dieser Charakterisierung. Aber bei wichtigen Entscheidungen? Nein – da sind wir ganz wach, überlegen gut und treffen niemals eine rein emotionale Entscheidung. Also eine Entscheidung, über die wir nicht eine Sekunde wirklich nachgedacht haben. Nein. Wir suchen uns jetzt irgendeinen Grund, und mag er noch so an den Haaren herbeigezogen sein, um unsere Emotion zu „erklären“.

Dazu möchte ich über ein interessantes Experiment berichten, das an der Iowa State University durchgeführt wurde. Und zwar in einem Fahrstuhl. Der Fahrstuhl der Fakultät für Psychologie ist dort immer voll. Es gibt nur den einen in dem Gebäude, und darin „knubbeln“ sich immer zu viele Menschen. Ein ideales Testgebiet, um festzustellen, wie häufig sogar psychologisch geschulte Menschen spontane Werturteile über ihre Mitmenschen abgeben (Quickshot Manipulation).

Den voll besetzten Fahrstuhl betritt also ein wissenschaftlicher Assistent. Wie üblich mit Akten beladen – die trägt er unter dem linken Arm. Kann sie kaum festhalten, so viele sind es. In der rechten Hand hält er einen Kaffeebecher. (Eine sehr häufig anzutreffende Marotte der Amerikaner. Manchmal habe ich das Gefühl, die hätten große Angst auf dem Weg vom Klo zum Büro zu verdursten. Echt witzig.) Während der Fahrstuhl anfährt, bittet er jetzt einen Nebenstehenden darum, einmal ganz kurz seinen Kaffeebecher zu halten. Ordnet seine Akten umständlich um. Und nimmt den Becher mit Dank wieder an sich. Inzwischen ist das Erdgeschoss erreicht. Die Menschen strömen heraus. Hier stehen nun die Testleiter. Sie fragen die hilfsbereite Person, die dem Assistenten den Kaffeebecher abgenommen hat, nach ihrer spontanen Einschätzung: „Fanden Sie den Herrn eher sympathisch oder unsympathisch?“ Eine sehr seltsame Frage. Die meisten können sich gar nicht mehr richtig daran erinnern, wie der Assistent aussah, und finden die Frage an sich schon merkwürdig. Aber sei’s drum. Es ist ja nur EINE Frage. Sie wird spontan beantwortet, und schon eilt man weiter. Was konnten die Testleiter jetzt Erhellendes feststellen? Dass Menschen dazu neigen, unbewusst falsche Einschätzungen zu machen? Nein – es kommt noch verrückter. Im ersten Testdurchlauf hatte der Assistent nämlich einen Becher mit Eiskaffee in der Hand. Sehr unangenehm kalt, wenn man ihn festhält. Und wenn es auch nur für wenige Sekunden ist. Im zweiten Testdurchlauf war der Becher angenehm warm. Handwarm. Handschmeichlerisch. Sie ahnen schon, was kommt. Diejenigen, die den warmen Becher gehalten hatten, gaben dem Assistenten Bestnoten. Die mit dem kalten Becher fanden ihn insgesamt sehr unsympathisch. Danach gefragt, konnten sie sich aber partout nicht daran erinnern, überhaupt einen Becher in der Hand gehalten zu haben. Das ist erstaunlich.

Sind wir mit solch kleinen Mitteln so stark zu beeinflussen? Wie kommen wir dazu, Werturteile über Menschen abzugeben, die in keiner Weise auf erklärbaren Fakten beruhen? Das kann ich auch nicht begründen. An den Tatsachen dieses häufig wiederholten Experiments komme ich jedoch nicht vorbei. Wir sind schnell in der Zumessung von Charaktereigenschaften. Viel zu schnell. Ist das vielleicht unserer Herkunft geschuldet? Kann sein. Folgende interessante Schilderung von der Begegnung zweier Affen bringt vielleicht Licht ins Dunkel. (Zweier Affen? Wo will er denn jetzt hin …?)

Ein Affe biegt um einen Felsen und trifft plötzlich einen anderen Affen. Wie viele Entscheidungen muss er jetzt sofort treffen?

  • Ist es ein Affe oder ein Nicht-Affe?
  • Wenn es ein Nicht-Affe ist, ist er ein Pro-Affe oder ein Anti-
  • Affe?
  • Wenn es ein Affe ist, ist er männlich oder weiblich?
  • Wenn es ein Weibchen ist, ist es in Hitze?
  • Wenn es ein Weibchen ist, hat sie Babys?
  • Wenn es ein Männchen ist, ist er jung oder erwachsen?
  • Wenn er erwachsen ist, gehört er meiner Gruppe an oder gehört er zu einer anderen Gruppe?
  • Wenn er zu meiner Gruppe gehört, ist er ranghöher oder rangniedriger?
  • Wenn ich diese Entscheidung nicht richtig treffe, werde ich angegriffen!

(Zitiert nach Paul Watzlawick: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn, Täuschung, Verstehen. Piper München-Zürich)

Das sind eine Menge Entscheidungen, die ich auf einen Blick treffen muss. Nicht wahr? Und es ist zudem nur ein „Affe“. Als ein in der Wolle gefärbter Darwinist schlage ich daher vor, die Ursachen für unsere „Schnell-Einschätzungen“ in unserer Vorzeit zu suchen. Denn genau die gleichen Entscheidungen musste auch der Neandertaler treffen, wenn er auf den homo sapiens traf. (Mit wenig Erfolg, wie wir heute wissen. Der homo sapiens hat vermutlich den Neandertaler ausgerottet. Zumindest nach der Meinung vieler namhafter Anthropologen.) Diese Verhaltensmuster tragen wir noch tief in uns. Wie viele andere „Steinzeit-Muster“ übrigens auch. Hier sind die Gründe zu suchen.

Frisch frisiert ins Unglück

Meistens kann Ihnen Ihre „Wahrnehmungsbehinderung“ ganz egal sein. Sie werden auf der Einkaufsstraße nicht mehr von Ihren Mitmenschen gebissen. Mindestens passiert das ziemlich selten.

Aber stellen Sie sich einmal vor, sie wären Mitglied einer Online-Dating-Plattform? Und heute Abend treffen Sie den Mann, mit dem sie ellenlange E-Mails ausgetauscht und viele interessante Telefonate geführt haben. Sie sind gebadet und parfümiert. Neue Frisur. Neuer Rock. Neue Schuhe und fürchterlich nervös. Da kommt er ins Lokal spaziert. „Ein Bild von einem Mann.“ Sie mögen ihn schon von Weitem. Seine Körperhaltung. Seine Lässigkeit. Und er hat noch nicht einmal einen Bauch. Gut gekleidet ist er auch noch. Sie verlieben sich schon innerhalb der ersten zehn Minuten. (Schön, ich mag spontane Menschen. Menschen, die anderen erst einmal Kredit geben und nicht so miesepetrig kritisch auf andere Zeitgenossen zugehen.) Tja – Sie sind aber leider gerade auf einen Heiratsschwindler hereingefallen.

 

Teilen

Dieser Artikel kann nicht kommentiert werden.