Das Denken und Rechnen mit Wahrscheinlichkeiten ist eine prima Sache. Schwarz auf weiß suggeriert es uns eine gewissen Fundiertheit der Entscheidung. Nur welche Annahmen legen wir zugrunde? Was wissen wir wirklich über die (nahe) Zukunft? Der Psychologe Dr. York Hagmeyer verrät Ihnen, die wo die Gefahren beim Denken in „Wahrscheinlichkeiten“ lauern.
Bei Geldanlagen kommt neben der Unsicherheit der Folgen, die durch Wahrscheinlichkeiten erfasst wird, zusätzlich als weitere Dimension der Zeithorizont hinzu. Was ist damit gemeint? Nehmen Sie eine Aktie. Auf Grundlage der Kursschwankungen dieser und ähnlicher Aktiven können Sie die Wahrscheinlichkeit bestimmten, mit der der Kurs zu einem bestimmten Zeitpunkt, zum Beispiel dem Tag Ihres Renteneintritts, über dem Ausgangskurs liegt. Diese Wahrscheinlichkeit ist ziemlich klein, weil der Kurs deutlich schwankt. Wenn nun aber das Zeitfenster erweitert wird, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, dass der Kurs irgendwann in diesem Zeitfenster über dem Ausgangskurs liegt. Bei einer einzelnen Aktie ist diese Abschätzung trotzdem mit einer hohen Unsicherheit behaftet, weil das Unternehmen ja in der Zwischenzeit Konkurs gehen könnte.
Bei einem Aktienfonds ist die Abschätzung leichter möglich. Trotzdem lauert hier eine Denkfalle. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass der gewählte Fonds in den nächsten Jahren an Wert zunimmt, ist die Wahrscheinlichkeit für einen hohen Wert zu einem bestimmten Zeitpunkt gering. Die Falle ist, diese beiden Punkte miteinander zu verwechseln. Eine Analogie ist der Roulettespieler, der meint, dass nun doch endlich Rot kommen müsse, weil bisher so häufig Schwarz gekommen ist. Auf lange Zeit hat er Recht, dass sich Schwarz und Rot bei einem geeichten Roulettetisch ausgleichen müssen. Der Tisch hat aber weder Erinnerung noch Ziele, darum ist die Chance für Rot und Schwarz bei jeder Runde genau gleich hoch, egal was vorher war. Das Warten auf Rot kann also lange dauern. Das Gleiche ist bei Aktien der Fall. Darum wäre eine interessante Größe, zu wissen, wie lange die durchschnittliche Wartezeit bei einer Fondsanlage ist, bis nach einer Verlustzeit sich wieder ein Gewinn gegenüber dem Ausgangszeitpunkt ergibt. Solche Informationen werden Sie aber kaum erhalten.
Die Analyse von Wahrscheinlichkeiten über die Zeit hinweg ist ein kompliziertes Unterfangen. Darum werden solche Analysen in der Beratung selten präsentiert. Stattdessen bekommen Sie häufig qualitative Beschreibungen und Qualitätssiegel zu sehen, die eine Bewertung der Option und einen Vergleich zwischen Optionen ermöglichen sollen. Gerne wird auch auf Testberichte verwiesen, bei denen verschiedene Fonds oder Fondsanbieter miteinander verglichen werden. Zusätzlich wird gerne mit Grafiken gearbeitet, die Wertverläufe darstellen
Diese Wertverläufe sind aus zwei Gründen problematisch. Erstens ist die Vergangenheit ein nur mäßiger Prädiktor für die Zukunft. So war beispielsweise Kodaks Sofortbildkamera ein großartiges, sehr gewinnbringendes Produkt, bevor es wegen der Kameras in Smartphones nicht mehr nachgefragt wurde, und das Unternehmen in Konkurs ging. Rückblickend ist es immer einfach zu sehen, was der Grund für eine negative Entwicklung war. Aber vorausblickend ist es sehr schwierig zu entscheiden, wann es am besten ist, auszusteigen, selbst wenn man weiß, dass jede Entwicklung irgendwann zu Ende sein muss.
Um diesen Prozess zu veranschaulichen, macht ein bekannter Wirtschaftswissenschaftler gerne eine Auktion mit seinen Studenten: Zu versteigern ist eine Ein-Dollar-Note. Alle Gebote sind zulässig, die Auktion endet, wenn es keine weiteren Gebote gibt. Alle Gebote müssen sofort bezahlt werden. Was glauben Sie, wie viel Geld wird für eine Ein-Dollar-Note gezahlt? Die Antwort ist erstaunlich: häufig über zehn Dollar. Viele Teilnehmer machen im Verlauf der Auktion gute Gewinne und die Wertentwicklung zeigt beständig nach oben. Aber wenn Sie am Ende dabei sind und das letzte Gebot abgeben, sind Sie der Verlierer. Hätten Sie eine solche Entwicklung an einer Grafik ablesen können? Nicht, wenn Sie nur die vergangene Entwicklung sich anschauen. Nur wenn Sie eine Projektion in die Zukunft haben und eine Abschätzung der Unsicherheit der Entwicklung, haben Sie eine ungefähre Ahnung, ob es für Sie Sinn macht, beim Preis von zwölf Dollar für die Ein-Dollar-Note, noch mal zuzuschlagen.
Zweitens fehlt bei den in Beratungsgesprächen gezeigten Grafiken häufig der Wertverlauf des Gesamtmarkts. Dass ein Aktienfonds an Wert zunimmt, ist selbstverständlich, wenn der Markt an Wert zunimmt. Die Frage ist aber, ob der Wertzuwachs des Fonds besser als der des Markts ist. Das ist besonders dann wichtig, wenn Ihnen bei einem aktiv gemanagten Fonds laufende Kosten entstehen. Diese reduzieren Ihren Gewinn. Ein fairer Vergleich wäre also die Wertentwicklung eines Aktienfonds auf Basis des Gesamtmarkts minus der Minimalkosten für eine entsprechende Anlage. Dann sehen Sie, ob der angebotene Fonds Ihnen zumindest in der Vergangenheit mehr gebracht hätte als ein sogenannter Indexfonds, der einfach den Markt abbildet und in der Regel billiger ist als ein aktiv gemanagter Fonds.
Auf jeden Fall werden Sie im Laufe der Beratung viele Informationen erhalten. Worin Berater gut sind, ist, Ihnen genau die Informationen zu liefern, die Sie überzeugend finden. Wenn Sie deutlich machen, dass Ihnen Zahlen nichts sagen, dann bekommen Sie Grafiken statt Zahlen. Wenn Sie Zweifel bezüglich der Vertrauenswürdigkeit der Anbieter haben, erhalten Sie Informationen darüber, wie viele Personen diesem Vertrauen und welche Beurteilungen und Gütesiegel die Anbieter haben. Wenn Sie sich unsicher sind, ob die Option überhaupt die richtige Anlageform ist, bekommen Sie Informationen darüber, welche Personen sich wann für eine solche Anlageform entscheiden. So sehen Sie, dass andere, Ihnen vergleichbare Personen, sich für die vorliegende Option entschieden haben. Sie bekommen also die Informationen, die Sie für eine Entscheidung möchten und die Ihnen den Eindruck vermitteln, gut informiert zu sein.
Neben Informationen bekommen Sie bei einer Beratung noch weitere Geschenke. Das größte ist natürlich die Zeit, die ihnen der Berater gibt. Aber es gibt natürlich nichts wirklich geschenkt. Geschenke sind psychologisch gesehen potenzielle Fallen. Geschenke sind in unserer Gesellschaft mit Gegenseitigkeit assoziiert. Durch das Beschenktwerden entsteht ein Verpflichtungsgefühl gegenüber dem Schenker. Weil mir die andere Person etwas gegeben hat, sollte ich ihr auch etwas geben. Viele haben das Gefühl, etwas kaufen zu müssen, wenn sich ein Verkäufer besonders viel Zeit genommen und sich stark bemüht hat. Diese unbewusste Tendenz kann natürlich von verkaufenden Beratern besonders gut zielgerichtet eingesetzt werden. Sie nehmen sich Zeit und vermitteln dem Kunden, dass keinerlei Gegenleistung erwartet wird. Aber genau dadurch wird ihre Leistung zum Geschenk. Würden die Berater eine Bezahlung erwarten, wäre die Beratung psychologisch gesehen ein Geschäft und der Kunde könnte entscheiden, ob ihm die Beratung den geforderten Betrag Wert ist.
Du entscheidest!
Das Nicht-zur-Entscheidung-Drängen macht die Beratung nicht nur zu einem Geschenk. Es ist auch eine gute Strategie, die Zufriedenheit mit der anschließenden Entscheidung zu erhöhen. Sich gedrängt zu fühlen, reduziert die erlebte Autonomie, also die erlebte Freiheit beim Entscheiden. Autonomie ist aber ein Grundbedürfnis. Daher werden Einschränkungen als negativ erlebt. Gleichzeitig wird durch dieses Vorgehen die Verantwortung für die Entscheidung klar an den Kunden abgegeben. Der Kunde hat die volle Kontrolle über die Entscheidung und damit auch die volle Verantwortung. Dass der Kunde bei der Entscheidung die volle Kontrolle hat, ist aber nur die halbe Wahrheit. Die Vorauswahl der Optionen und die Art der gegebenen Informationen, insbesondere die gemachten Vergleiche mit anderen Produkten, haben einen sehr starken Einfluss auf die Entscheidung.
Stellen Sie sich vor, Sie werden vor folgende Wahl gestellt:
Option 1: Ein Zufallsgenerator zieht eine Zahl zwischen 1 und 10.000. Wenn die Zahl 15 gezogen wird, müssen Sie 30.000 Euro bezahlen. Bei allen anderen Zahlen passiert nichts.
Option 2: Sie zahlen zehn Jahre lang jeden Monat 20 Euro. Dann zieht ein Zufallsgenerator eine Zahl zwischen 1 und 10.000. Egal welche Zahl gezogen wird, Sie müssen nichts bezahlen.
Was machen Sie? Die beiden vorgestellten Optionen entsprechen in etwa den Optionen zwischen denen Sie sich entscheiden, wenn Sie eine Versicherung abschließen. So werden Ihnen aber die Optionen selten vorgestellt werden. Stattdessen werden Sie vermutlich gebeten sich Folgendes vorzustellen: Der Blitz ist bei Ihnen eingeschlagen und das Dach muss neu renoviert werden. Die Kosten belaufen sich auf 30.000 Euro. Wenn Sie jetzt eine Versicherung abgeschlossen haben, dann übernimmt die Versicherung den Schaden. Diese Versicherung kostet Sie nur 20 Euro im Monat. Wenn Sie keine Versicherung abgeschlossen haben, bleiben Sie auf den Kosten sitzen. Wären Sie nicht froh, eine Versicherung abgeschlossen zu haben? Ich denke Sie sehen den Unterschied in den beiden Beschreibungen. Die erste Version beschreibt Ihre Entscheidung als die Wahl zwischen zwei Arten von Verlust. Entweder ein sicherer monatlicher Verlust oder ein Spiel, bei dem Sie mit geringer Wahrscheinlichkeit Verlust machen. Die zweite Version beschreibt die Entscheidung als die Wahl zwischen einem großen Gewinn bei geringen Kosten oder einem großen Verlust.
Vielleicht finden Sie die Vorstellung, dass sich derselbe Sachverhalt als Gewinn oder Verlust darstellen lässt, verwirrend. Dann sind Sie nicht allein. Auch mir geht es so. Aus Sicht des Beraters ist es aber schlecht, Sie als Kunden zu verwirren. Ein Zustand der Verwirrung und erlebter Inkompetenz wird nicht nur als nicht hilfreich, er wird als aversiv erlebt. Außerdem sinkt mit Verwirrung die Tendenz, eine Entscheidung für einen Kauf zu treffen. Klarheit ist wesentlich angenehmer und diese wird eher erreicht, wenn einige wenige Alternativen anhand weniger, möglichst einfacher Kriterien verglichen werden. Wenn sich dann noch eine klar beste Alternative ergibt, die wenig oder noch besser keine Kompromisse von Ihnen verlangt, war die Beratung erfolgreich und Sie sind wahrscheinlich sowohl mit der Beratung als auch mit Ihrer Entscheidung im Anschluss zufrieden. Und genau das wird Ihnen bei vielen Beratungen über Geldanlagen geboten. Ihnen werden eine oder wenige Optionen gegeben, die verschiedene Ziele miteinander verbinden, zum Beispiel Sicherheit und Ertragsstärke. Durch die Vorgabe solcher, für Sie guter oder vermeintlich bester Optionen können Sie leichter entscheiden.
Ein weiterer Vorteil dieses Herausarbeitens einer besten Option ist, dass Sie weniger Bedauern empfinden werden in Bezug auf die verpassten Vorteile der nicht gewählten Optionen. Wenn Sie vor verschiedenen Optionen stehen, die alle mit gewissen Vor- und Nachteilen verbunden sind, dann bedeutet eine Entscheidung für eine Option auch eine Entscheidung gegen die Vorzüge der anderen, nicht gewählten Optionen. Wenn Sie sich beispielsweise für einen breit gestreuten Aktien- und Rentenfonds entscheiden, dann verpassen Sie die höheren Renditechancen, die mit einem reinen Aktienfonds verbunden sind. Arbeitet Ihr Berater aber heraus, dass der Fonds viel sicherer als ein reiner Aktienfonds ist und viel höhere Renditen als eine festverzinsliche Anlage hat, sieht es so aus, als ob Sie das Beste aus beidem hätten. Sie müssen also nichts bedauern.
Berater sind mit Sicherheit keine Heiligen, sonst hätten sie ihren Beruf verfehlt. Weise sind sie vermutlich auch nicht. Wenn sie das wären, müssten sie so reich sein, dass sie vermutlich kein Interesse daran hätten, ihr Wissen außer in Bestsellern mit uns zu teilen. Trotzdem wissen sie mehr als wir und dieses Wissen ist für uns hilfreich. Wenn wir sie bitten, uns zu beraten, dann können sie uns zu einer für uns akzeptablen Entscheidung, mit der wir wahrscheinlich zufrieden sind, führen. Wir könnten sie aber auch bitten, uns die Komplexität des Entscheidungsproblems und die zu machenden Kompromisse vor Augen zu führen. Das ist anstrengend und verlangt von uns ein hohes Engagement. Eine Zufriedenheit mit der Entscheidung ist nicht garantiert, selbst wenn wir mühselig am Ende eine beste Option identifiziert haben. Wir müssen uns also entscheiden, wie wir entscheiden wollen. Wollen wir uns beraten und zu einer Entscheidung leiten lassen, oder wollen wir uns informieren lassen und den ganzen Entscheidungsprozess selbst in die Hand nehmen.

PD Dr. York Hagmayer ist Akademischer Rat am Georg-Elias-Müller-Institut für Psychologie an der Universität Göttingen. Nach Stationen bei der IBM Academy of Management und am King’s College in London forscht er gegenwärtig zu Fragen der Entscheidungsfindung im medizinisch-psychologischen Bereich.