Mehr Mut, auch mal keine Meinung zu haben

Gute Führungskräfte sind meinungsstark.Sie sind keine Zweifler. Sie haben eine klare, einordnende und direktive Meinung.
Doch muss man immer eine Meinung haben? Oder ist keine Meinung zu haben – gerade nach reiflicher Überlegung – sogar die bessere Führungsqualität? Der Entscheidungsphilosoph Ingo Radermacher wagt ein Plädoyer für weniger Meinung.

Klares Denken und auf dieser Basis kluge Entscheidungen zu treffen ist für Führungskräfte obligate Kernkompetenz. Sie entscheiden in vielfältigen Dimensionen: bewusst und unbewusst, explizit wie implizit, dafür oder dagegen, geliebt oder gehasst, gefördert, behindert oder ignoriert – alles ist »drin«. Doch oft steht in Entscheidungen nicht das klare Denken im Vordergrund, sondern vielmehr die eigene Meinung. Denn Entscheidungsfähigkeit lässt sich im realen beruflichen Alltag faktisch zunächst oftmals herunterbrechen auf die sprichwörtliche Pauschalierung: »Eine gute Führungskraft hat eine klare Meinung. Punkt.« Unabhängig davon, worum es sich jeweils handelt: Eine Führungskraft hat eine – einordnende, kommentierende, meist auch klar-direktive – Meinung dazu. Punkt. Wir attestieren ihr: Meinungsstärke. Und, wenn diese Kernkompetenz zu wünschen übrig lässt: Meinungsschwäche. Keine Meinung? Ein Manko!  Kaum zu glauben!

Der geistige Patellarsehnenreflex der Gegenwart

»Keine Meinung? Ein Manko!« Das gilt nicht nur für die Führungsetage, und nicht nur für das Berufliche. Wir leben generell in meinungsstarken Zeiten; die digitale Ära ist auch das Zeitalter des Meinungs-Overloads. Die Kommentarspalten der Social Media beispielsweise bilden es ab: Gleichgültig, wie die offene Frage oder das strittige Thema lautet: Die Meinungskanonade kommt umgehend in Schwung, mit der Automatik und Geschwindigkeit eines Reflexes. Eine Meinung zu haben und sie schnurstracks zu vertreten – unbelastet von Kenntnissen, Wissen und Überlegungen –, ist quasi, um im Bild zu bleiben: der geistige Patellarsehnenreflex der Gegenwart. Und das gilt im Digitalen ebenso wie im realen Leben. Unerheblich, wie kompliziert ein Sachverhalt oder wie (un-)bedeutsam eine Frage ist: Wir haben dazu eine – unsere – Meinung. Und es gilt, sie umgehend und vehement zu äußern. Zögern hingegen ist in dieser Zeitgeist-Logik, wie gesagt: Schwäche.

Der Mount Stupid in den Tiefen des Meinungs-Overload

Dabei gilt oftmals: je gewaltiger die Meinungskanonade, desto geringer der Anteil an Wohlüberlegtem. Der US-Cartoonist Zach Weinersmith hat für die auffällig hohe Bereitschaft insbesondere uninformierter Menschen, sich zu einem komplexen Thema zu äußern, einen Namen geprägt: »Mount Stupid«. Auf diesem Berg der Dummheit lassen sich dann aller Unwissenheit zum Trotz hervorragend mit Stammtisch-Expertisen profund wirkende Bierdeckel-Lösungen vertreten. Und die Psychologie beschreibt dieses Phänomen als Dunning-Kruger-Effekt – nach seinen Entdeckern, David Dunning und Justin Kruger: Je geringer der Kenntnisstand eines Menschen zu einem bestimmten Thema, desto größer die diesbezügliche Selbstüberschätzung in der eigenen Kompetenzzuschreibung. Anders formuliert: Je mehr Ahnung wir von etwas haben, desto klarer sehen wir jeweils die eigenen Grenzen. Und diese Klarsicht braucht es gerade heute: in einer Zeit der grundlegenden, globalen Transformationen.

Die Verwechslung von Meinungs- mit Führungsstärke

Meinungsstärke kann das Ergebnis langjähriger Erfahrung in unterschiedlichen (Arbeits-)Umfeldern und Positionen sein. Dann handelt es sich um Expertise, die sich auf Leitungsebene beispielsweise durch intuitive, schnelle Entscheidungsfindung zeigt. Oftmals indes verwechseln wir im Beruflichen Meinungs- und Führungsstärke. Das vermeintlich eherne Gesetz dazu lautet: Wer als Führungskraft, als Manager, keine Meinung hat, leistet einen Offenbarungseid der Ahnungslosigkeit – und legt gleichsam ein Eingeständnis der Führungsschwäche ab. Gerade in unruhigen Zeiten setzen wir uns – etwa anlässlich einer offenen oder strittigen Angelegenheit – als Führungskraft unter entsprechenden Druck: unter Meinungszwang. Wir fädeln uns ein in den zeitgeistgemäßen Meinungs-Overload. Gleichgültig, worum es geht: reaktionsschnell, umgehend verlangen wir uns eine Meinung – eine Einordnung, einen Kommentar, eine Direktive – ab. Und dabei laufen wir Gefahr, die eigentliche Kernfrage zu übersehen: Worum geht es – wirklich?

Worum geht es – wirklich?

Das Problem ist, unter anderem: Jedes Mal, wenn wir reflexartig »eine Meinung haben«, schmälern wir unsere Möglichkeiten – verringern wir unsere Freiheitsgrade, was das eigene Nachdenken, die eigenen Optionen der Problemlösung und Entscheidungsfindung angeht. Denn die Wirklichkeit in ihrer zunehmenden Komplexität ist nicht einmal annähernd so schlicht und überschaubar, dass man ihr mit dem »geistigen Patellarsehnenreflex« tatsächlich gewachsen wäre.

Der gedankliche Freiraum: Meinungslosigkeit

Die Alternative zum »Patellarsehnenreflex«? Vorübergehende und aktive Meinungslosigkeit! Sich die Freiheit zu nehmen, zu entscheiden: »Dazu werde ich mir meine Meinung bilden.« Diese Entscheidung eröffnet einen Freiraum für: Innehalten, Abwägen, Überlegen. Genau den Freiraum, den die eigentliche, fundierte, eigene Meinungsbildung braucht. Den Freiraum, der es erlaubt, Informationen zu sammeln, Faktenwissen zu ermitteln, neues Wissen zu generieren und Erkenntnisse zu gewinnen. Der unter Umständen gestattet, verschiedenste (auch der eigenen Ansicht fern stehende) Perspektiven testweise einzunehmen und zu berücksichtigen. Und vor allem: den Freiraum für die Reflektion der mit dem jeweiligen Sachverhalt wirklich einhergehenden Probleme, Prämissen, Priorisierungen und Entscheidungsbedarfe.

Führungskraft zu sein, heißt: sich zu entscheiden für diesen Freiraum. Für das Recht auf – vorübergehende – Meinungslosigkeit. Und: die Verantwortung dafür zu übernehmen.

Das Meinungsvakuum aushalten

Wenn es gelingt, den »mentalen Patellarsehnenreflex« zu unterdrücken, entsteht zunächst eine Art Meinungsvakuum. Dieses will – in Zeiten des Meinungs-Overload – erst einmal: ausgehalten sein. Mitunter auch: durchgestanden sein. Und auch hier droht gelegentlich ein Irrtum: die Verwechslung von »Meinungsvakuum« mit »Machtvakuum«. Für eine Führungskraft ist die Frage nach unternehmensinternen und auch externen, expliziten wie impliziten Machtverhältnissen eine nicht unwichtige Frage. Sie bewusst in die Überlegungen mit aufzunehmen, kann ein wesentlicher Bestandteil bei der Klärung der Schlüsselfrage sein: Worum geht es – wirklich?

Auf der sicheren Seite?

Nun leben wir heute in Zeiten der Veränderung, die mit erheblichen Unsicherheiten und Ängsten einhergehen. Manch einer erliegt da einem Trugschluss namens: Sicherheit.

In Unternehmen und Organisationen zählt dann – statt des Interesses an der wohlbegründeten Bildung einer eigenen Meinung, durchaus auch mittels eines Zeitfensters der »Meinungslosigkeit« – am Ende nur eines: die (Wunsch-)Vorstellung, auf der sicheren Seite zu sein. Scham, Konfliktscheue, Angst um die eigene Position oder gar den Arbeitsplatz, die Sorge, sich angreifbar zu machen: All das verführt zu Opportunismus und/oder »Kuschelkurs«. Dann wird bedingungslos »mitgespielt«, wird beispielsweise die Meinung des Meinungsführers – genauer: des jeweiligen Alphatiers im Unternehmen oder der Organisation – übernommen, nachgebetet; es wird »das Fähnlein in den Wind gehängt«. In dieser Gefahr stehen insbesondere Führungskräfte im mittleren Management und »newbies«. Meinungsopportunismus scheint hier nicht selten einen sicheren Aufstiegsweg zu versprechen; die Neurosen und Weltbilder der Management-Alphatiere möglichst originalgetreu abzubilden, verheißt: Karriereförderung. Vor allem bei entsprechender Unternehmenskultur, in der beispielsweise »Alphatier-Egos« gehätschelt und Mitarbeiter im Gegenzug gegängelt, kleingehalten werden. Und vielfach kommt noch etwas ganz Pragmatisches hinzu: Es mangelt, nach eigener Aussage, oftmals an der notwendigen Zeit, um sich eine umfängliche, ausgewogene und auch jenseits von Machtrhetoriken begründbare Meinung zu bilden.

Die Hoffnung, auf der »sicheren Seite« zu sein, ist – gerade heute –, nicht unverständlich. Sich zu klar zu positionieren, indem man beispielsweise einen Freiraum einfordert, sich tatsächlich die fundierte eigene Meinung zu bilden, kann bedeuten: sich zu exponieren. Das fiel schon in analogen Zeiten, etwa in Meetings, manchem schwer. Und es scheint in Zeiten zunehmender Digitalisierung – angesichts all der Speicherungs- und Multiplikationsmöglichkeiten – zu einer ganz besonderen Herausforderung geworden zu sein.

Allerdings: Es gibt keine »sichere Seite«. Man mag die Klaviatur der Anpassung, des Opportunismus oder der Defensivität noch so gut spielen: Eine Versicherungspolice gegen Misshelligkeiten, Fehlentscheidungen oder Niederlagen – oder gegen spätere Anprangerung oder Anklage – hat man damit nicht im Geringsten in der Hand.

Auf der sicheren Seite ist man im Gegenteil auch in dieser Hinsicht, wenn man sich den Freiraum nimmt für die Frage: Worum geht es – wirklich? Und bei der eigenen gedanklichen Analyse, der Suche nach Antworten, auch übergreifende Faktoren mitbetrachtet, wie: unternehmensinterne Machtstrukturen, Hierarchien, eigene Ängste, Unsicherheiten, Karrieredynamiken und Ähnliches. Denn je klarer wir auch diese Faktoren mit in den Blick bekommen, und desto qualifizierter leiten und führen wir – ob im Top-Management oder im Mittelbau.

Vergleichbares gilt für eine andere Falle: den blinden Aktionismus. Auch er scheint in unsicheren Zeiten Sicherheit zu verheißen: »Ärmel hochkrempeln und loslegen« ist ein ähnlich archaisches Gesetz im Management wie: »Meinungsstärke gleich Führungsstärke«. Und es ist ein ähnlich trügerisches Gesetz. Tatsächlich bietet auch der Aktionismus keine Sicherheit. Stattdessen profitieren Führungskräfte heute von einem gewissen Mut zum Aushalten und Gestalten »vorübergehender Meinungslosigkeit«.

Die einzige »sichere Seite«: das eigene Denken

Faktisch liegt hier eine Quelle gravierender Management-Irrtümer und Führungsfehler – in der Annahme, eine Leitungsposition könne Sicherheiten ziehen aus: ostentativer Meinungsstärke, Machtrhetoriken, Opportunismus oder Aktionismus. Die schlechte Nachricht lautet: Solche Sicherheiten gibt es nicht (mehr). Und die gute Nachricht? Sie lautet: Wenn es gelingt, den freiwerdenden Raum – der dort entsteht, wo auf Ad-hoc-Meinungsstärke, Machtrhetoriken, Opportunismus und Aktionismus verzichtet wird –, für die eigene gedankliche Arbeit, die Analyse und begründete Meinungsbildung zu nutzen, liegt darin eine genuine, definitive Sicherheit.

Meinungsbildung: Revidier- und Korrigierbarkeit

Kompetenzen des Aushaltens und Gestaltens von »Meinungslosigkeit« fallen nicht vom Himmel; sie wollen eingeübt und geübt sein. Und: Darin eine Form von Sicherheit zu finden, braucht nicht zuletzt einen vernünftigen Umgang mit den eigenen Fehleinschätzungen, Irrtümern, Trugschlüssen, Unsicherheiten und Ängsten.

»Fuckup-Nights« im Kleinformat – Austausch über gescheiterte eigene Unternehmensentscheidungen im Kreis der Spitzen-Führungskräfte – können beispielsweise ein Zugang sein. Möglich wird hier – neben der Erfahrung von Bodenhaftung und Menschlichkeit – die ehrliche und tatsächliche Auseinandersetzung mit Erfolg wie Misserfolg. Das kann, wie auch das »Meinungsvakuum«, den eigenen Horizont – den eigenen Denk  und damit auch Handlungsspielraum – entscheidend erweitern, und zwar um die Erkenntnis: Gerade in Zeiten der Digitalisierung bedeutet gute Führung nicht, die eine richtige (eigene) Meinung und Entscheidung unbedingt zu verfolgen, sondern: Flexibilität, Agilität, stete Lern- und Entwicklungsbereitschaft. Beispielsweise in der Form, wie sie erfolgreiche Start-ups zeigen: mehrere Alternativen parallel im Auge zu behalten und schließlich diejenige(n) zu übernehmen, bei denen sich Erfolg einstellt bzw. einzustellen scheint. Mit anderen Worten: Die eigene – aus guten Gründen gebildete – Meinung zu revidieren oder mindestens zu korrigieren, ist kein notwendiges – und allenfalls schönzuredendes – Übel, sondern konstitutiver Bestandteil guten Unternehmertums und guter Leitung. Das Erfolgsgeheimnis? Sich als Führungskraft immer wieder zu fragen: Worum geht es – wirklich? Und mittels eigenen Denkens – in erster Linie auf Klarheit und sonst nichts verpflichtet – Antworten zu suchen.

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