Marktführerschaft ist lediglich eine Kreation

Die Zeiten, in denen „Gewinnwarnung“ lediglich eine Aussage darüber war, dass es möglicherweise nächstes Jahr nicht ganz so eine große Steigerung des Gewinns geben könnte, sind vorbei. Der Begriff erhält endlich die Bedeutung, die er hat. Wann taucht eigentlich die „Verlustwarnung“ auf? Die Zahlen aus dem vergangenen Jahr sprechen eine deutliche Sprache. So manches Unternehmen steckt mitten im finanziellen Gewitter. Das erlebt auch Hannes. Der 49-jährige studierte Betriebswirt ist Produktionsleiter und Mitglied der Geschäftsleitung eines internationalen Industriekonzerns. Er gewährt einen Einblick, was auf der Management-Etage eigentlich so gedacht und getan wird. Übrigens: Ein Schmunzeln aufgrund dieser Business-Satire ist durchaus erlaubt.

Jetzt zeichnet sich ab, was Hannes schon längst vermutet hat: Die von der Geschäftsleitung initiierte, organisatorische Übung, die Lagerhaltung auf zwei Länder aufzuteilen, hat sich nicht bewährt. Der Logistikaufwand war zu groß und darum hat man beschlossen, gleich eines der Auslieferungslager zu schließen.

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Vielleicht war der Zeitpunkt nicht ganz ideal. Im Monat, in dem der größte Auslieferungsmonat war, wurde umdisponiert. Der daraus entstehende Rückstand von mehreren Tausend Aufträgen erbrachte fast ebenso vielen Kundenstornierungen. Hannes hätte es gewusst, war aber unterlegen in der Schlussabstimmung. Man meinte, dass er, unterdessen der älteste im Gremium, keinen Mut mehr zu Veränderungen hätte.

Als „Dank“ darf er jetzt zu Händen des Kommunikationsverantwortlichen die Pressemitteilung verfassen. Man meinte, dass es doch letztendlich in Hannes’ Abteilung hapert. Von daher sei er prädestiniert, hier etwas Aussagekräftiges zu formulieren.

Hannes hat die Vorgabe, dass so etwas als Zeichen der Stärke wirken sollte, schließlich sei man ja Marktführer. Hannes stolpert bereits über das Wort „Marktführer“. Wo, wann Marktführer? Das Unternehmen ist weder das Größte, noch hat es einen gigantischen Umsatz – und als Verlustführer will man doch nicht gelten. Die höchste Kundenzufriedenheit hat man auch nicht. Aber wie kriegt man Marktführerschaft trotzdem hin?

Hannes studiert, wie eigentlich so „Entrepreneur des Jahres“-Pokale vergeben werden. Da leuchtet ihm ein Licht auf: Das ist gar nicht so schwer, man biegt sich Kategorien so lange zurecht, bis es nur noch einen Kandidaten übrig hat. So wird schlussendlich jeder „Entrepreneur des Jahres“. Klar! Wer in der Kategorie „Unternehmer, die mehr als 20 Jahre aber nicht mehr als 22 Jahre am Markt sind, kein Studium haben, Linkshänder sind, zwei Mal durch die Führerprüfung gefallen sind und nie eine Stunde Marketing studiert haben und trotzdem von etwas leben können“ übrig bleibt, gewinnt! 

Also überlegt sich Hannes, wo sein Unternehmen Marktführer ist. Es stellt neben vielem anderen Werkzeugteile für die Montage von Löffel-Einwurf-Motoren in öffentlichen Kaffeeautomaten her. Da gibt es schon mal nicht so viele Mitbewerber, da ist man bereits fokussiert. Tiefe statt Breit ist so oder so das Marketing-Credo der Stunde…

Von diesen Herstellern für Werkzeugteile für die Montage von Löffel-Einwurf-Motoren in öffentlichen Kaffeeautomaten gibt es wiederum noch wenige Unternehmen, die es bereits mehr als fünf Jahre gibt und die in dieser Zeit höchstens vier Mal den Chef ausgewechselt, dazu Lagerhaltungen in zwei Ländern und gleichzeitig alle Charakter-Typen von Mitarbeitern nach dem DISG-Profil analysiert, kategorisiert und katalogisiert haben. Und von diesen wiederum, sind sie die einzigen, die trotz Verlust noch alle die eigene Kaffeetasse am Arbeitsplatz besitzen können.

Hannes fasst zusammen und taktet auf der Tastatur: „Wir sind in einem schwierigen Markt. Trotz allem haben wir es zum Marktführer gebracht. Denn wir sind klar und unangefochten die Nummer 1 am Markt für Werkzeughersteller für die Montage von Löffel-Einwurf-Motoren in öffentlichen Kaffeeautomaten, die es bereits mehr als fünf Jahre gibt und dabei höchstens vier Mal den Chef ausgewechselt, Lagerhaltungen in zwei Ländern sowie Charakter-Typen von Mitarbeitern nach dem DISG-Profil analysiert haben, die allesamt alle die eigene Kaffeetasse am Arbeitsplatz besitzen.“

Wow! Hannes ist stolz und erleichtert. Zur Not, wenn es noch einen zweiten solchen Anbieter gäbe, würde er noch kurzerhand sich zum Linkshänder erklären. Denn der andere hat sicherlich keinen Produktionschef, der Pressemitteilungen mit links schreibt…

Zugegeben: Nichts gegen Zahlen. Sie machen Gewinnwarnungen und Verlustwarnungen erst möglich. Sie sind die Grundlage jeder einleuchtenden Marktführerschaft. Zählen und Messen ist hilfreich. Das darf aber nicht als Versteck gelten, begründbare Interpretationen zu kommunizieren. Wahrheit ist und bleibt Wahrnehmung. Gerade Führungskräfte sollten dazu stehen, die eigene Wahrnehmung nicht als Wahrheit anzusehen, sie aber als Teil ihrer Erwartung zu formulieren.

Hier beginnt „Führung“ mit der Kommunikation. Ein Gespräch mit wichtigen Kunden über seine Erlebnisse lässt einen bedeutend mehr erfahren, wie er den Kundenkontakt erlebt hat, als eine Studie mit Teilnahme von 100 repräsentativen Kunden, deren Antworten auf Zahlendiagrammen als Zufriedenheit dargestellt werden. Ein Prozent mehr bedeutet mehr Zufriedenheit – aber warum?

Da Zahlen immer retrospektiv und nur in der Lage sind, die Vergangenheit abzubilden, bietet sich auch hier ein echter Dialog an. Wie will ich erfahren, warum ich nicht mehr Kunden habe? Indem ich meine aktuellen Kunden nach Ihrer Zufriedenheit frage? Oder in dem ich mit Kunden, die es noch gar nicht sind, versuche ins Gespräch zu kommen?

Wie kann ich meinem Mitarbeiter helfen, seine Leistung entfalten, wenn er nur nach seinem Output gemessen wird. „Zahl zu tief – Frage: was tust du, um mehr zu erreichen – am Schluss wird wieder gemessen.“ Vielleicht liegt es viel tiefer, was Ursache ist, was meine Erwartungen sind, was seine Erwartungen sind. Vielleicht haben wir auch einfach eine unterschiedliche Betrachtung von „Leistung“ auch darüber kann oder besser gesagt, muss man reden. Dialog und Replik, Argumentation und Nachdenken – ja, messen wäre einfacher, aber echte Auseinandersetzung mit der jeweiligen Subjektivität bringt wohl alle Beteiligten weiter.

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