Ein seltsames Gefühl der Unbehaglichkeit macht sich breit. Überall lauert der Verfall, das Böse, die Bedrohung. Man könnte meinen, wir stünden an einem Abgrund. Gute Zeiten für Rattenfänger. Aber warum lassen wir uns von denen eigentlich einfangen?
In seiner Vereidigungsrede schilderte der neue amerikanische Präsident sein Land als heruntergewirtschaftet, marode und von Migranten bedroht. Absurd, denn die Zahlen zur wirtschaftlichen Entwicklung der USA sehen gut aus. Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum, Inflation – alles im grünen Bereich. Den Amerikanern geht es so gut wie lange nicht mehr. Doch die Wahrnehmung ist bei vielen Amerikanern offenbar anders.
Und in Deutschland? Auch hierzulande meinen einige Zeitgenossen, der Untergang sei nah. Eine Migrantenflut, die Deutschland angeblich in seinen Grundfesten erschüttert, eine EU, die uns ruiniere, Menschen die vermeintlich immer mehr in die Armut abdriften oder sich mit prekären Arbeitsverhältnissen durchkämpfen müssen. Es klingt bei vielen so, als müssten wir Deutschland nun auch „great again“ machen.
Damit wir uns nicht missverstehen. Ja, es gibt Probleme. Es gibt in der Tat auch in den Industrieländern zu viele Menschen, die an oder unterhalb der Armutsgrenze leben. Und ja, es gibt auch Probleme mit der Integration von Flüchtlingen. Das wird eine Mammutaufgabe für die nächsten Jahre. Das dürfen wir nicht ausblenden.
Doch diese Untergangsszenarien, dieser Alarmismus. Woher kommt der? Deutschland steht wirtschaftlich glänzend dar. Wir haben eine fast historisch niedrige Arbeitslosigkeit, ein solides Wirtschaftswachstum, einen deutlichen Haushalts- und Handelsbilanzüberschuss. Der Motor brummt. Lehrstellenknappheit? Ganz im Gegenteil. Das Handwerk kann tausende Lehrstellen nicht besetzen, weil die Auszubildenden fehlen. Hartz IV ein Desaster? Nein, es war ein nötiges Sanierungsprojekt, das Deutschland vom einst kränkelnden Mann Europas wieder nach oben gepuscht hat. Mit handwerklichen Fehlern behaftet, in der Tat, aber die lassen sich reparieren. Vollzeitarbeit nimmt ab und Teilzeit nimmt zu? Nein, die Vollzeitarbeit führt in der Beschäftigungsstatistik nach wie vor. Lediglich die Leiharbeit hat zugenommen. Die rettet aber Unternehmen vor Engpässen und die Leiharbeiter vor der Arbeitslosigkeit.
Flüchtlingskatastrophe? Ein enormer Ansturm, den dieses Land mit vereinten Kräften nach und nach bewältigt. Keine leichte Aufgabe, nein, aber vielleicht auch einmal eine gute Gelegenheit, sich klar zu machen, in welch paradiesischen Zuständen wir leben. Wir gehören inklusive der Empfänger von Transfereinkommen zu den oberen 5% der Welt-Einkommensstatistik. Untergang des Abendlandes? Mitnichten. Die Islamisierung Europas ist ausgefallen und wird auch in Zukunft ausfallen.
Und dennoch. Viele Menschen sind verunsichert haben Angst. Eine globalisierte Gesellschaft, die fortschreitende Digitalisierung und die damit verbundenen Veränderungen sorgen für Verwirrung. Auch macht Fremdheit vielen Menschen Angst. Aber die ist interessanterweise vor allem dort am höchsten, wo es kaum Migranten gibt. Es ist die Angst vor dem Unbekannten. Und wenn Menschen verunsichert sind, ihr Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle aus dem Lot gerät, dann haben „great again“-Apostel ein leichtes Spiel.
Das Rezept ist ganz einfach: Verstärke die Ängste, dramatisiere die Situation, generalisiere Probleme, verzerre die Fakten, und lasse einfach alles weg, was Licht in das Dunkel bringen könnte. Man könnte meinen, die Heilsprediger von heute haben sich am Meta-Modell der Sprache von Richard Bandler und John Grinder bedient und damit die dunkle Seite der Macht aktiviert. In der Tat, das was die Populisten aller Couleur glänzend beherrschen, ist die Kunst des geschickten Reframings.
Elisabeth Wehling, Soziologin und Kognitionsforscherin spricht vom politischen Framing. Sprache setzt einen gedanklichen Rahmen, der unser Denken und unser Fühlen steuern kann. Begriffe wie Flüchtlingswelle, Armutsfalle und Lügenpresse produzieren in uns Bilder und Empfindungen, die negative Assoziationen auslösen. Und je stärker diese negativen Empfindungen sind, umso mehr setzt der gesunde Menschenverstand aus. Es wird nicht mehr hinterfragt und kritisch beleuchtet, sondern man meint sich nur noch gegen Wellen, Fallen und Lügen wehren zu müssen. Und je häufiger selbst die abstrusesten Fake-News verbreitet werden, umso mehr Leute glauben umso intensiver daran. Experten sprechen vom Frequency Validity Effect, auch Reiterationseffekt. Den Aussagen, die wir schon mal gehört haben, schenken wir eher Glauben als solchen, die wir zum ersten Mal hören. Werden wir nun Mantra-artig mit immer denselben Behauptungen bombardiert, neigen wir dazu, ihnen Glauben zu schenken.
Wem nützt das? Antwort: Denjenigen, die sich als Retter aufschwingen wollen. Dazu muss man aber Menschen erst mal zu Opfern machen. Denn wer sich nicht als Opfer fühlt, braucht auch keinen Retter, sondern kann selbst für sich sorgen. „Great again“ wird damit zur Rattenfänger-Formel. Die Welt braucht aber keine Rattenfänger, sondern Führungspersonal, das Menschen stärkt, anstatt sie klein zu machen. Wir brauchen Augenhöhe, Wertschätzung, offene Kommunikation, Beteiligung und das Gefühl schon „great“ zu sein. Nicht im narzisstischen Sinn, sondern im Sinne eines gesunden Selbstbewusstseins. Jeder für sich, jede Familie, jedes Team und jede Organisation. Dann fällt auch der Untergang aus.
Dr. Constantin Sander hatte eine mehrjährige Karriere in der naturwissenschaftlichen Forschung hinter sich, als er in die Wirtschaft wechselte und dann in einem mittelständischen Unternehmen die Marketingleitung übernahm. Kommunikative Prozesse faszinierten ihn schon lange und so absolvierte er neben dem Job zunächst eine Ausbildung zum NLP-Master und später zum Integrativen Coach. Er betreibt in Heidelberg eine Coachingpraxis und berät Firmen im Marketing. Am liebsten geht er mit seinen Klienten in den Wald: „Dort gibt’s keine Wände, sondern Bäume, die fast in den Himmel wachsen. Und daher auch genug Inspiration für die manchmal eingeschränkte Wahrnehmung.“