Du kannst mich mal

Hast du auch schon mal an der Bushaltestelle gestanden und auf den Bus gewartet? Und als er endlich eintraf, nicht gleich die Münzen parat gehabt, um den Fahrschein zu bezahlen? Und dann eine Abfuhr eingesteckt vom schlecht gelaunten Busfahrer? Kennst du das? Falls ja, schau dir an, wie es Toni erging und was er machte, um das Ärgerangebot nicht anzunehmen. Möglicherweise sehr zum Ärger des aufgebrachten Busfahrers.

An der Bushaltestelle. Toni träumt wieder mal vor sich hin und daddelt mit seinem Smartphone rum. Der Bus hat längst vor ihm gehalten, und Busfahrer Bernd kocht bereits innerlich, weil Toni keine Anstalten macht einzusteigen. Stattdessen klickt Toni völlig versunken weiter auf seinem Bildschirm rum. Da platzt dem Fahrer der Kragen: «Ey, Alter, willste jetzt mitfahren oder was?»
Toni erschrickt. Und liefert. Zumindest hat er das vor. Verängstigt und gehetzt kramt er in der Tasche nach dem nötigen Kleingeld, doch er findet keins. Ein Kuli, ein Schlüssel, ein Taschentuch, alles da – doch wo sind die blöden Münzen?

Dem Busfahrer geht das alles viel zu langsam. Er raunzt Toni ein zweites Mal an: «Mann ey, watt soll das? Such deinen Fahrschein gefälligst vorher!» Und das so laut, dass es der ganze Bus hört. Zur Angst gesellen sich jetzt auch noch Scham und Wut. Toni wird knallrot, stammelt irgendetwas vor sich hin und möchte am liebsten im Boden versinken.

Toni hat jetzt die Wahl. Er kann den Weg gehen, den so viele gehen: Als Spielball des Aufgebrachten sich treiben lassen, unter schweren Gefühlen leiden und sich an einen Ort wünschen. Oder er geht den Weg der Ärger-Intelligenz: Mithilfe des fünfstufigen Anti-Ärger-Modells gekonnt Paroli bieten. Schauen wir uns an, wie Toni es gelingen kann, sich zu behaupten, ohne den Busfahrer reflexhaft anzugreifen oder zu beschämen.

Phase 1: Deeskalieren

Toni erinnert sich, dass sich zunächst alles um die «Nicht-Verschlimmerung» dreht. Und das geht mit langsamem, tiefen Atmen und erst mal Klappe halten. Maximal eine bis zwei Sekunden, mit dem Ziel, sich etwas zu stabilisieren und die Phase 2 gut beginnen zu können. Es geht hier nicht darum, den Konflikt zu verstehen geschweige denn ihn zu bewältigen. Es geht allein um die „Nicht-Eskalation“. Ein scheinbar unattraktives Ziel, doch in diesem ersten Moment der Überrumpelung und Überforderung genau das Richtige. Ein kleiner erster Schritt auf dem Weg zur Gelassenheit. Würde Toni in dieser Phase mehr wollen, würde er sich übernehmen. Daher: Schuster, bleib bei deinen Leisten. Atmen und Schweigen reicht. Erst Mal.

Phase 2: Analysieren

Während Toni schweigt und atmet, fragt er sich, weshalb der Busfahrer so aufgebracht ist und was ihn selbst am Auftreten des Busfahrers stört. Ganz klar: Auf Seiten des Busfahrers handelt es sich um einen Zielkonflikt in Verbindung mit einem Bedürfniskonflikt. Der Zielkonflikt: Toni soll möglichst schnell einsteigen. Der Bedürfniskonflikt darunter: Toni soll dieses Ziel möglichst effektiv und effizient verfolgen und ihn, den Busfahrer, dabei wahrnehmen. Aus Tonis Sicht liegt hingegen ein Kommunikationskonflikt in Verbindung mit einem Bedürfniskonflikt vor. Der Kommunikationskonflikt: Die Stimme des Busfahrers soll weniger «amplitudenhaft» daherkommen und auf Reizformulierungen wie „Ey, Alter“ und „gefälligst“ soll er verzichten. Der darunter liegende Bedürfniskonflikt: Toni wünscht sich Wertschätzung. Mit dieser neuen Erkenntnis (über unerfüllte Bedürfnisse) geht Toni über zur nächsten Phase.

Phase 3: Minimieren

Mithilfe der Ärgerminimierungsstrategie «Peter & Paul» kann sich Toni schlagartig schützen. Das Beschämungsangebot des Busfahrers sagt nichts über ihn – Toni – aus, sondern allein etwas über ihn selbst – den Busfahrer: Entweder fehlt ihm gerade etwas oder es stört ihn etwas. Es geht in Wahrheit um ihn, den Busfahrer, nicht um Toni, den Fahrgeist. Der Busfahrer ist aus seiner Balance gekippt, um nicht zu sagen: Er ist „in (emotionaler) Not“. Wenn Toni diesen Ausnahmezustand wahrnehmen kann, nimmt er sich aus der Schusslinie und sieht den «unterversorgten» Busfahrer. Unterversorgt in Bezug auf dessen Bedürfnisse.
Toni kann sich darauf aufbauend auch dem «Situationsmodell» zuwenden und sich in die Lage des Busfahrers einfühlen: Dieser ist wahrscheinlich gerade sehr ungeduldig und gestresst, vielleicht ist er mit dem falschen Bein aufgestanden. Möglicherweise trägt er eine Frustration aber auch schon länger mit sich rum. Was auch immer bei ihm los ist, es ist bei ihm selbst los. Toni ist nur eine beliebige Zielscheibe.
Und dank der «Zirkularität» erkennt Toni auch sofort seinen Eigenanteil. Natürlich hätte er etwas aufmerksamer sein und den herannahenden Bus zumindest hören können. Dann wäre das alles nicht passiert. Indem Toni Verantwortung für die Konfliktentstehung übernimmt, lindert er sein Ärgergefühl in Bezug auf den Busfahrer. Sie haben beide beigetragen, jeder auf seine Art. Weil Toni das Konzept «Teilverantwortung» kann sieht er auch die eigene Täterrolle und entkommt auf diese Weise der Verführung, sich als Richter aufzuspielen.

Phase 4: Konfrontieren

Zunächst könnte Toni sachlich aufklären und den Busfahrer über die eigenen Bedürfnisse und Emotionen informieren, die bei ihm gerade entstanden sind. Toni könnte ihm also sagen, dass er gerade Scham fühlt und Schuld und auch Trauer und Angst, aber er geht davon aus, dass der Busfahrer auf so viel Ehrlichkeit nicht vorbereitet ist. Wer gerade rumballert ist wahrscheinlich nicht zur Empathie aufgelegt. Wahrscheinlich hat er auch kein Interesse zu hören, was für Toni jetzt wichtig wäre, zum Beispiel Augenhöhe und Respekt.
Nein, angesichts der Aufgeregtheit des Busfahrers verzichtet er auf eine solche Nachricht. Stattdessen nickt er kurz und irritiert hierdurch den Busfahrer, der sich wundert und fragt, warum sein Gegenüber «positiv bestätigend» reagiert – und nicht mit Verteidigung oder Flucht. Nach dem kurzen Nicken wechselt Toni dann schlagartig die Mimik, in dem er Augenkontakt kurz vermeidet – ob er das Hemd des Busfahrers kurz anschaut oder in der eigenen Hosentasche nach etwas kramt oder draußen den Verkehr beobachtet – Hauptsache kurz aus dem intensiven Blickkontrakt ausbrechen, so die Strategie des «Ignorierens». Währenddessen, während dieser körpersprachlichen Mikro-Irritationen, kramt Toni so schnell er kann nach den Münzen, um den Ärgeranlass möglichst schnell aus der Welt zu schaffen. Auf diese Weise kombiniert Toni zweierlei: Er zeigt ein lösungsorientiertes Verhalten und kommuniziert währenddessen zugewandt (Blickkontakt, Nicken), aber auch reduziert (gelegentliches kurzes Wegschauen).
Falls der Busfahrer seine Aufgebrachtheit nicht in den Griff bekommt, kann sich Toni auch ein schlagfertiges Kontern erlauben, etwa mit «Sind Sie sich bewusst, dass Sie doppelt so laut mit mir sprechen wie Ihr Kollege gestern?». Diese irritierende Frage sollte den Busfahrer erst einmal so lange beschäftigen, bis sich Toni im hinteren Teil des Busses einen Platz gesucht hat.

Phase 5: Positionieren

Im schlimmsten Fall schmeißt der Busfahrer Toni aus dem Bus. Ein solches «Ins Exil verbannen» sollte Toni einkalkulieren und es nicht als Niederlage verbuchen, sondern als Konsequenz seiner Weigerung, für das Machtspiel des Busfahrers zur Verfügung zu stehen. Ist Toni nicht bereit, diesen Worst Case einzuplanen, sollte er auf jegliche Schlagfertigkeit verzichten. Denn Schlagfertigkeit erweckt oft den Eindruck einer Provokation.
Toni hat also die Wahl, wie hoch er ins Risiko geht. Nicht der Busfahrer entscheidet dies, sondern allein Toni. Diese Autonomie beflügelt Toni, emotional bei sich zu bleiben und nicht zum Spielball des gestressten und impulsiven Busfahrers zu werden.

Schlusswort

Wie das Beispiel des aufgebrachten Busfahrers zeigt: Wer am Straßenverkehr teilnimmt, setzt sich zwangsweise einer Vielzahl von Ärger- und Konfliktangeboten aus. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute: Wir haben eine Wahl. Wir haben jedes Mal die Wahl, ob wir uns forttreiben und wegspülen lassen oder ob wir konsequent aussteigen, indem wir Schritt für Schritt, entlang der fünf Stufen des Anti-Ärger-Modells, uns dem Sog entziehen und gelassen und souverän bleiben. Denn das Leben ist zu kurz für ungünstigen Ärger. Es sei denn, du hast Lust auf Energie- und Zeitverschwendung und unangenehme Gefühle wie Angst, Schuld und Scham.

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