#Digisophie: Der Freiraum zwischen Meinung und Entscheidung

Menschen haben Meinungen. Wie gut, möchte man meinen. Die eigene Meinung zu haben und sie äußern zu können – Kennzeichen von Reife. Doch vielfach ist die scheinbar hochgelobte frei Meinung ein Reflex und keineswegs eine Meinung der ein Denk- und Abwägungsprozess vorausgegangen ist.

Menschen haben Meinungen. Wie gut, möchte man meinen. Die eigene Meinung zu haben und sie äußern zu können – Kennzeichen von Reife. Das Schulgesetz NRW sieht es beispielsweise als Erziehungsziel und Teil des Bildungsauftrags an: zu lernen, die eigene Meinung zu vertreten – und die Meinung anderer zu achten. Meinungsfreiheit! Und spätestens als Erwachsene haben wir es dann durch und durch verinnerlicht: Jede Meinung – sofern nicht mit Gesetzen in Konflikt geratend – ist »ok«, frei zu äußern und zu respektieren.

Um hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Auch mir ist die Meinungsfreiheit ein hohes Gut. Und doch vermisse ich gelegentlich – und das nicht nur im Schulgesetz – etwas Entscheidendes: den Verweis auf den Zusammenhang von »Meinung« und »Meinungsbildung«. Einer Meinung geht idealtypisch ein Abwägen, ein Denkprozess voraus; sie ist im besten Fall etwa geknüpft an – und auch messbar an: Faktenwissen und Wahrheit.

Abwägen, Denkprozesse, Faktenwissen, Wahrheit? Heute geht »eine Meinung haben« anders. Automatisch, nahezu reflexartig – und unbelastet von Überlegungen. Die digitale Ära ist das Zeitalter des Meinungs-Overloads. Dabei gilt: je gewaltiger die Meinungskanonade, desto geringer der Anteil an Wohlüberlegtem. Äußert sich beispielsweise ein Experte – nach Jahren des Forschens – zu »seinem« Thema, darf er ganz sicher vor allem mit einem rechnen: Mit Lichtgeschwindigkeit prasseln – ungefragt, ungebeten – Meinungen jeglicher Couleur auf ihn ein.

Man poste testweise einmal eine Frage wie etwa »Ist Kuhmilch gesund für den menschlichen Organismus?« in sozialen Netzwerken. Eine sinnvolle Antwort dürfte für die meisten von uns, angesichts allen notwendigen Abwägens und aller notwendiger Klärung, durchaus ein paar Stunden (stillen) Nachdenkens und sorgfältigen Recherchierens bedürfen. Die Meinungskanonade indes kommt umgehend in Schwung, mit der Automatik und Geschwindigkeit eines Reflexes. Eine Meinung zu haben und sie frei zu äußern ist quasi, um im Bild zu bleiben: der geistige Patellarsehnenreflex der Gegenwart.

Und das nicht nur im Digitalen; ebenso im realen Leben. Unerheblich, wie kompliziert ein Sachverhalt oder wie (un-)bedeutsam eine Frage ist: Wir haben dazu eine – unsere – Meinung. Sich aufgeklärt, informiert und up-to-date zu zeigen – dazu gehört, so offenbar unsere zunehmende Überzeugung: die schnurstracks vertretene Meinung. Zögern hingegen ist, in dieser Logik: Schwäche.

Tatsächlich verhält es sich allerdings anders herum: Jedesmal, wenn wir reflexartig »eine Meinung haben«, schmälern wir unsere Möglichkeiten – beschränken wir unseren Horizont. Verringern wir unsere Freiheitsgrade, was das eigene Denken, die eigenen Optionen der Problemlösung und Entscheidungsfindung angeht. Denn die Wirklichkeit ist nicht einmal annähernd so schlicht und überschaubar, dass man ihr mit dem »geistigen Patellarsehnenreflex« tatsächlich gewachsen wäre. So sind Kinder nicht einfach nur Tyrannen, Flüchtlinge nicht schlicht Gewalttäter, Politiker nicht automatisch blöd, und Männer natürlich auch keine Schweine.

Die Alternative zum »geistigen Patellarsehnenreflex«? Meinungslosigkeit! Das heißt: Innehalten, Abwägen, Nachdenken. Meinungslosigkeit ist gewiss kein Merkmal von Dummheit, sondern von Intelligenz. Denn sie kann genau den Freiraum erzeugen, den das eigene klare Denken braucht – zum Beispiel für die fundierte Meinungsbildung, zum Beispiel für die wirklich dringenden und wichtigen Fragen und Entscheidungen. Eben ein Freiraum, der Informationen vorurteilsfrei sammeln, Wissen ableiten und eigene Erkenntnis gewinnen lässt. Insofern plädiere ich, kurz gesagt, für das Recht auf – zumindest vorübergehende – Meinungslosigkeit. Gerne auch aufzunehmen ins Schulgesetz.

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