Die manipulierte Relation

Sie erinnern sich an den Hurrikan „Katrina“? Die Ölpest im Golf von Mexiko? An BP – als den verantwortlichen Betreiber der Ölplattform „Deep Water Horizon“? Natürlich. Ist ja noch nicht so lange her. „Katrina“ hat für das größte Spendenaufkommen aller Zeiten gesorgt. Insgesamt 3,4 Milliarden Dollar. 1.800 Tote waren zu beklagen. Ein fürchterliches Desaster. Die Medien haben wochenlang darüber berichtet. Weltweit sterben laut der WHO etwa eine Million Menschen an Malaria. Jedes Jahr. Das Spendenaufkommen für Malariabekämpfung liegt derzeit bei etwa 500 Millionen Dollar. Für die Rettung eines verölten Seevogels hat BP umgerechnet 36.000 Dollar ausgegeben. Verölte Robben sind teurer. Sie kosten etwa 60.000 Dollar. Das kann man alles nachlesen. Die Fernsehbilder zeigten zudem mehr Tiere als Menschen, deren ganze Existenz ruiniert wurde. Es ist also keinesfalls Geheimwissen. Jetzt frage ich Sie ernsthaft: Sind wir völlig irrational? Warum interessieren uns irgendwelche Robben am Golf von Mexiko mehr als Hunderttausende von Malariatoten? Mit 60.000 Dollar könnten wir ganze Dorfschaften in Afrika vor dem Hungertod retten. Hunderte von Kindern müssten nicht sterben. Dass wir Menschen doch nicht so gütig und mitfühlend sind, wie wir es uns gerne zumessen – dass wäre eine Erklärung. „Jeder ist sich selbst der Nächste“. Diese These stimmt aber nicht. Denn wir helfen ja unter bestimmten Bedingungen durchaus selbstlos und spontan. Aber welche Bedingungen sind das? Können wir uns mit Einzelpersonen besser identifizieren – vor allem dann, wenn sie uns ganz persönlich in Bild und Ton begegnen?

Ein Beispiel. Sie kennen die Kinderhilfsorganisation World Vision. Sie sammelt sehr viele Spenden für Waisenkinder in Hunger- oder Krisenregionen. Immerhin sterben jedes Jahr neun Millionen Kinder an Hunger oder Krankheiten, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreicht haben. Das ist ganz grauenhaft. Gut also, dass es solche Organisationen überhaupt gibt. Haben Sie schon einmal Post von World Vision bekommen? Wenn nicht, googeln Sie einfach nach dem Namen. Der erste Untertitel nach dem Haupteintrag ist: „Jetzt Pate werden.“ Sowohl auf Flyern wie auch im Internetauftritt von Worldvision finden Sie sehr wenig statistische Angaben. Aber Sie finden echte Menschen. Sie können Ihre Spende also direkt mit einem wirklich existierenden Kind assoziieren.

Ist der persönliche Bezug wirklich der Grund für Ihre Bereitschaft zu spenden? Der sogenannte gesunde Menschenverstand würde dies sofort bejahen. Aber die Begründung stimmt nicht. Wie so häufig in der Verhaltensökonomie finden die Forscher ganz andere Ursachen für unser Verhalten. Irrationales Verhalten, das wir uns selbst nie zugestehen würden. So lange, bis wir nach Experimenten verblüfft feststellen, dass uns der sogenannte „gesunde Menschenverstand“ eigentlich häufiger in die Irre führt als wir annehmen.

Folgendes Experiment gehört heute zum Standard in dieser Wissenschaft. Es arbeitet mit dem vertrackten Phänomen des „Priming“. Also des Prägens eines gedanklichen und emotionalen Zustandes, bevor Probanden eine einfache Aufgabe zu lösen haben. Konkret. Ich selbst habe an einem solchen Experiment teilgenommen.

Helfen Sie Billy

Man bildete zwei Testgruppen. Der einen gab man eine Rechenaufgabe zu lösen. Keine schwierige. Zum Beispiel: „Es werden jedes Jahr 500 Millionen für Malariakranke gespendet. Bei 3 Millionen Erkrankten: Wie viel Geld entfällt dabei auf jeden einzelnen Kranken?“ Nicht schwer. Es war auch erlaubt, einen Taschenrechner zu benutzen. Die andere Testgruppe blätterte in einer Zeitschrift mit vielen schrecklichen und emotional aufwühlenden Bildern von Kindern, die Hunger leiden. Besonders hervorgehoben war die Geschichte eines kleinen Jungen aus dem Kongo namens Billy. Sonst nichts. Keine Rechenaufgabe. Nur anschauen. Anschließend wurden die Probanden gebeten, in eine Spendensammelbüchse einen beliebig hohen Betrag zu werfen. Ganz egal wie viel. Jeder nach seinem Geschmack und seinen Möglichkeiten.

50 Cent, 10 Euro. Egal. Was passierte? Welche Sammelbüchse war hinterher voller? Sie glauben jetzt sicher, dass die Spendensammelbüchse der Zeitschriftenleser voller war. Und damit haben Sie recht. Die Spendensammelbüchse der Zeitschriftleser war deutlich voller. Jeder hatte das subjektive Gefühl, er würde „Billy“ direkt helfen. Der Test war aber noch nicht zu Ende. Im nächsten Durchlauf wurde der Gruppe zwei, also der Gruppe, die Zeitung gelesen hatte, gleichfalls die gleiche Rechenaufgabe gegeben: Malariaspenden versus Malaria-Erkrankten, bevor sie die Zeitung aufschlagen durfte. Jetzt wäre zu erwarten, dass diese Gruppe ihre ursprüngliche Spendenhöhe korrigieren würde zugunsten der Malaria-Kranken. Leider passierte das nicht. Was passierte, ist verblüffend. Die Spendenhöhe sank insgesamt. Sowohl für die Malaria-Kranken als auch für Billy. Das erscheint unlogisch. Aber – Sie wissen das ja schon – mit Logik tun wir uns furchtbar schwer. Wir sind sehr häufig Opfer tief ablaufender psychologischer Prozesse, die man erst anfängt wirklich zu verstehen.

Ihr Controller platzt in die Kreativsitzung

Im beschriebenen Experiment war es aber ganz deutlich und klar. Menschen, die man vorher mit Zahlen/Daten/Einzelfakten konfrontiert, fahren offensichtlich ihre Emotionen bei der Entscheidungsfindung deutlich herunter. (Natürlich unbewusst.) Das ist ein Prozess, der viel stärker ist, als das, was wir „sehen“. Was wir „sehen“ (zum Beispiel den kleinen Billy), verstört uns erheblich weniger, wenn wir vorher „gerechnet“ haben. Macht das Sinn? Eigentlich nicht. Es ist aber so. Ich will es selbst manchmal nicht wahrhaben, muss mich aber mit den wissenschaftlich sauber erhobenen Tatsachen abfinden. Sollten Sie zum Beispiel in einer Werbeagentur arbeiten, dann verhindern Sie bitte, dass vor einer Kreativ-Sitzung Ihr Controller auftritt, um die Halbjahreszahlen zu verkünden. Auch wenn sie sehr erfreulich sind. Es wird Sie anschließend behindern Ihren Emotionen freien Lauf zu lassen. Das klingt wirklich eigenartig. Zugegeben. Sind wir denn wirklich so schlicht „programmiert“? Ich fürchte ja. Man kann uns recht einfach umtricksen. Oder wir können uns auch selbst ganz einfach ein Bein stellen. Das sind alles keine übermäßig komplexen Ereignisse. Komplex sind nur die dadurch ausgelösten tiefenpsychologischen Prozesse. Uns erscheint alles, was wir subjektiv empfinden, als ziemlich klar und einfach. So sollte es auch sein. Als rational handelnder homo oeconomicus würden wir sonst in der Datenflut schlicht ersaufen. (Sie wissen ja schon: Ich glaube nicht, dass es den homo oeconomicus – oder meinetwegen den „Otto Normalverbraucher“ überhaupt gibt. Außer in Büchern über Volkswirtschaft oder Soziologie. Beides Wissenschaften, die Deutungshoheit beanspruchen, aber leider bisher mit ihren Prognosen nicht viel „gerissen“ haben.)

Konfrontiert man die Menschen mit diesen Testergebnissen, sind sie übrigens nicht in der Lage, ihr Verhalten zu begründen. Auch dann nicht, wenn man gestützt fragt. Also: „Warum haben Sie insgesamt weniger gespendet, wenn es doch die vernünftigere Variante gegeben hätte, Ihre Spende zwischen Billy und Malariakranken aufzuteilen“? Sie können es nicht erklären. Manche Erklärungen werden dann glatt erfunden. (Rückwirkendes Rationalisieren von Emotionen.) Aber das sind immer nur Spekulationen. Man kann das Experiment mit anderen Vorzeichen wiederholen und wiederholen. Es kommen immer die gleichen verblüffenden Resultate heraus. Was kann man daraus lernen? Es ist schön, für einen guten Zweck manipuliert zu werden. Die Werbepsychologen bei World Vision machen einen tollen Job: viele wirklich existierende Kinder mit einer toll aufgenommenen Fotostrecke. Wenig statistische Zahlen. Schon gar keine Rechenaufgaben. Auch keine Zahlenspiele, die Rechenaufgaben provozieren. Besser kann man es nicht machen.

Katastrophe bei BMW

Auch bei der Berichterstattung über den Hurrikan „Katrina“ wurden wir mehr mit Einzelbildern geflutet als mit statistischen Angaben. Die gab es auch. Aber eher als Fußnote. Ich halte das allerdings eher für einen Zufall. Medien wissen natürlich, dass Bilder stärker sind als Text. Glauben Sie daher bitte nicht an eine „Weltverschwörung der Medien“ mit dem Ziel, uns das Geld aus der Tasche zu ziehen. Das wäre die zu einfache Generalisierung eines ernsten Problems. Denn natürlich kann man uns mit diesen Effekten auch zu Handlungen verführen, die nicht altruistisch und ethisch einwandfrei sind.

Ein Beispiel: Wissen Sie, warum uns Autoverkäufer so sehr auf die Nerven gehen können? Haben Sie das schon einmal erlebt? Sie betreten ein Autohaus und gehen zielstrebig auf das Objekt Ihrer Begierde zu. Selbstredend haben Sie sich schon lange vorher „ein Bild Ihres neuen Image-Boosters gemacht“. Sie treffen schon lange vorher eine Vorauswahl. Je nach Geldbeutel: Entweder „Mercedes versus BMW“. Oder „Japan versus Opel“. Nehmen Sie diese Kategorisierung bitte nur als Beispiel. Was wollen Sie jetzt? Natürlich. Sich das Auto anschauen. Erst von außen – dann von innen. Sich reinsetzen. Die Atmosphäre erschnuppern. Ihre Hände auf das Lenkrad legen. (Männer treten auch gerne leicht gegen die Reifen. Warum, wird mir immer verborgen bleiben.) Jetzt fängt Sie ein beflissener Autoverkäufer ab. Sie haben ihn schon aus den Augenwinkeln gesehen und versuchen sich irgendwie unsichtbar zu machen. Geht aber nicht. Sie sitzen im Auto. Unübersehbar. Er setzt sich neben Sie. Und was tut er? Er textet Sie zu. Mit Daten und Ausstattungsvarianten des Fahrzeuges. PS – Hubraum – Benzinverbrauch – Umweltverträglichkeit – Kosten/km usw. Sie denken an Mord. Schließlich sind Sie so genervt, dass Sie fluchtartig das Autohaus wieder verlassen. Nein – Ihre Visitenkarte wollen Sie NICHT dalassen. Auf keinen Fall. „Ich melde mich bei Ihnen! Ja – okay – Sie heißen Schibulski. Danke.“ Und weg sind Sie.

Was haben Sie getan?? Sind Ihre Emotionen mit Ihnen durchgebrannt? Es ist doch nicht schlecht, umfassend informiert zu werden? Warum wollen Sie aber gerade DAS jetzt nicht? Ist das etwa rational? Nein, natürlich nicht. Es ist komplett irrational. Ihr Gehirn konnte nur zwei Dinge nicht „unter einen Hut bringen“ und parallel ablaufen lassen. Ihre Emotionen und Ihre Fähigkeit, gleichzeitig Zahlen zu verarbeiten. Beide Vorgänge haben sich gegenseitig stark behindert. Sie waren erst verwirrt, dann frustriert. Und jetzt überlegen Sie mal, was ein guter Autoverkäufer tut. Könnte er Sie vielleicht sogar zu einer irrationalen Handlung veranlassen? Sie treffen eine emotionale Entscheidung, die aber leider Ihr Budget gesprengt hat? Denken Sie an Ihre letzten Lustkäufe. Wie häufig stellen Sie anschließend fest, dass Sie erstens das Kaufobjekt gar nicht brauchen oder zweitens viel zu viel dafür bezahlt haben? Sogar mir passiert das ständig. Wenn Ihnen so etwas niemals passiert, sind Sie vermutlich Mister Spock (der Mann ohne Gefühle aus der Serie Raumschiff Enterprise) oder Sie haben vielleicht noch nicht gemerkt, dass Sie permanent emotionale Entscheidungen rückwirkend rationalisieren. Vor allem dann, wenn simple Zahlen und starke Emotionen gleichzeitig verarbeitet werden müssen.

Ein geübter Manipulator kennt diesen Effekt gut. Er konfrontiert Menschen vor einer Entscheidung mit Zahlen/Daten/Einzelfakten, sodass diese anschließend die Emotionen deutlich dämpfen. Merkt der Manipulator, dass Sie emotional positiv berührt sind – lässt er Sie in Ruhe. Sind Sie aber emotional negativ berührt – sendet er Störsignale, indem er Sie weiterhin mit (angeblichen oder richtigen) Fakten konfrontiert, die mit Emotionen nicht zu verarbeiten sind. Abschalten oder umpolen kann er Ihre negativen Emotionen nicht. Aber er kann sie wenigstens passieren lassen oder eben stören. Besser Sie sind verwirrt, als dass sich Ihre negative Emotion manifestiert. Jetzt könnte man meinen, dass Sie diese Störungen noch missgelaunter machen. Das tun sie auch. Aber nicht sehr lange. Sie wollen diesem Zustand der „Verwirrung“ nämlich möglichst schnell entgehen und stellen ganz von selbst die Ordnung in Ihren Gedanken wieder her. Dabei braucht der Manipulator gar nicht zu helfen. Dieser Prozess läuft ganz von selbst. „Verwirren Sie mich nicht mit Fakten.“ Sic.

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