Die Kraft der Angst

Plädoyer für ein missverstandenes Gefühl. Angst wird in unserer Kultur als negative Emotion klassifiziert. Sie gilt als schwach, irrational und unprofessionell. Wir glauben, dass Angst lähmt und uns erstarren lässt. Daher versuchen wir Angst zu vermeiden. Was wir dabei übersehen: Angst ist eine unserer größten Ressourcen.

Unsere negative Prägung in Bezug auf Angst, passiert schon in der frühen Kindheit. Wenn wir als Kind Angst hatten, zum Beispiel vor der Dunkelheit, dann wurde diese Angst meist belächelt oder als dumm abgewertet. „Du brauchst keine Angst zu haben! Das ist überhaupt nicht schlimm. Jetzt stell dich nicht so an! Du bist ein richtiger Schisser!“ Angst gilt als irrational und daher sollten Erwachsene auch keine Angst haben. Wir empfinden das Gefühl Angst als unangenehm. Daher meiden wir die Angst, wie der Teufel das Weihwasser und verdrängen sie ins Unbewusste. Wir schließen Versicherungen ab, geben uns der Illusion von Sicherheit und Kontrolle hin und bleiben innerhalb der uns bekannten Grenzen unserer Komfortzone. Wir haben früh gelernt, die Angst wegzupacken – sehr zur Freude aller Branchen, die uns Produkte verkaufen wollen, die uns das Leben angeblich sicherer machen. Unsere unbewusste Angst vor der Angst macht uns zu gut manipulierbaren Konsumenten und zu braven Bürgern, die kein Risiko eingehen.

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Selbst in den meisten spirituellen Lehren wird die Angst als etwas Negatives dargestellt und als das Gegenteil von Liebe deklariert. Sogenannte »negative« Gefühle gelten als Indiz, dass wir noch zu sehr mit unserem Ego verhaftet sind. Sie haben einfach noch nicht genug meditiert!

Angst als Ressource

Aber ganz neutral gesehen, ist Angst neben Wut, Traurigkeit und Freude eines unserer vier primären Grundgefühle. Angenommen, dass Gefühle kein Designfehler der Schöpfung sind, sondern eine nützliche menschliche Fähigkeit, dann müsste auch Angst nützlich sein. Es ist schwer, sich das überhaupt vorzustellen. Dennoch: Angst lässt uns in neuen Situationen vorsichtig vorgehen. Die Information, die unsere Angst uns zur Verfügung stellt, könnte lauten: »Achtung, hier kommt etwas Neues, sei vorsichtig!« Angst beinhaltet also eine Schutz-Funktion. Wenn wir Neuland betreten, ist immer Angst im Spiel – jeder der etwas anderes behauptet, ist ein Lügner, gefühlstaub oder hat keinen Zugang zu seiner Angst. Angst führt dazu, dass wir in solchen Fällen einen Plan machen und uns vorbereiten oder langsam und mit Bedacht vorgehen. Angst als Ressource geht aber noch weit darüber hinaus. Sie lässt uns wach und präsent sein – wir nehmen Dinge wahr, die wir sonst nie wahrnehmen würden. Angst setzt ungeahnte Fähigkeiten frei und Not macht erfinderisch! Das heißt auch, dass Angst, wenn sie frei fließen kann, Kreativität und Innovation in Gang setzt. Das kommt alles aus der Kraft und Energie der Angst.

Gefühls-Taubheit blockiert den Zugang zur Kraft

Da wir die Angst aber negativ bewerten und nicht lernen, mit ihr umzugehen, sind wir nicht in der Lage sie bewusst als Ressource zu nutzen. Stattdessen lernen wir bereits als Kinder, Gefühle zu betäuben und zu ignorieren, um zu überleben. Unsere Gefühle haben so nicht die Möglichkeit, mit uns zu reifen und erwachsen zu werden. Gefühle, wie die Angst, verschwinden aber nicht, nur weil wir uns taub machen. Sie sind unsere ständigen Begleiter und schwelen dann unerkannt im Unterbewusstsein und können sich in körperlichen Symptomen Ausdruck verschaffen. Im Falle von Angst z.B. als Nervosität, Durchfall, Schlaflosigkeit, Verspannung, etc. Oder die Angst überwältigt uns in Form einer Panikattacke oder zwanghaftem Kontrollwahn, wenn sie irgendwann so intensiv geworden ist, dass unsere Betäubungs-Strategien versagen.

Emotionale Angst und authentische Angst

Ein weiterer Grund, der uns von der Kraft der Angst fernhält, liegt darin, dass wir keine Unterscheidung zwischen emotionaler Angst und authentischer Angst treffen – zwischen Emotion und Gefühl. Emotionen haben ihre Ursache in der Vergangenheit und entstehen durch schmerzliche Situationen, die wir in der Kindheit durchlebt haben. Wenn sich beispielsweise die Eltern trennen, während wir noch klein sind, kann diese „traumatische“ Erfahrung im Erwachsenenalter zu einer emotionalen Angst vor Verlust des Partners führen. Die Verbindung zu der frühkindlichen Situation ist uns aber nicht mehr bewusst. Es ist dann wie ein altes Computerprogramm, welches immer wieder anspringt, wenn jemand den roten Knopf drückt. Solche emotionalen Prägungen können dann zu diffusen, eigentlich „unbegründeten“ Ängsten führen, wie Versagensangst oder Existenzangst. Das authentische Gefühl Angst hingegen entsteht im Hier und Jetzt, z.B. wenn wir etwas Neues ausprobieren. Die Angst kommt hoch, wir nutzen sie und dann verschwindet die Angst wieder, weil sie ihren Zweck erfüllt hat. Emotionale Ängste sind die Geister der Vergangenheit, die darauf warten, geheilt zu werden. Die oben beschriebene Kraft steckt nur in der authentischen Angst.

Dem Gefühl Angst eine andere Bedeutung geben

Wie können wir wieder Zugang zu dieser Kraft bekommen? Zunächst einmal indem wir unsere Haltung zur Angst verändern und die alte Geschichte durch eine neue ersetzen. Angst ist eine unserer größten Ressourcen, während Sicherheit nur eine Illusion ist! Angst macht uns wach, kreativ und lässt uns vorsichtig Neuland betreten – allerdings nur, wenn es für uns okay ist, Angst zu fühlen und wir gelernt haben, sie zu nutzen.

Und so erhalten Sie wieder Zugang zur Kraft, die in der Angst steckt:

#1 – Angst wahrnehmen

Wenn Sie bereit sind, Angst als Freund zu betrachten, gibt es keinen Grund mehr, sie zu unterdrücken.

#2 – Innehalten und Unterscheidung treffen

Sobald Sie Ihre Angst wieder wahrnehmen, halten Sie kurz inne und fragen Sie sich, worauf sich die Angst bezieht.

#3 – Die Angst bewusst fühlen

In beiden Fällen besteht der nächste Schritt darin, die Angst bewusst zu fühlen.

#4 – Die neue Erfahrung „abspeichern“

Wenn Sie die Angst genutzt haben, wird sie von allein wieder verschwinden. Aber Sie haben eine neue Erfahrung gemacht.

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