Das Falsche messen

Unser Leben und Arbeiten ist geprägt von Kennzahlen. Es wird evaluiert und gemessen, was das Zeug hält. Ziele müssen erreicht, Vorgaben eingehalten werden … Es fragt aber keiner: “Was messen wir da eigentlich?” Wir folgen blind den Zahlen. Wir fragen nicht nach dem Zusammenhang. Ist es schon Kausalität oder noch Korrelation? Egal! Wer misst, der ist!

Die Reduktion auf Zahlen und Skalenpunkte sehe ich als fortwährende Beleidigung des menschlichen Urteilsvermögens: Wir müssen wieder mehr miteinander reden!

Es sind oft nicht der Messfühler und seine Kalibrierung, die das Problem erzeugen, sondern es wird schlicht das Falsche gemessen. Stellen Sie sich vor, der Thermostat Ihrer Heizanlage ist kaputt gegangen; ein hilfsbereiter Freund bietet Ihnen ein Ersatzteil an, Sie stimmen freudig zu und bauen es ein. Irgendwie funktioniert das Ding, aber erst wenn die Zimmer überhitzt sind, schaltet die Heizung wieder ab. Als Sie sich das Bauteil genauer ansehen, stellen Sie fest, dass Ihnen ihr Bekannter einen Hygrostaten, einen Feuchtigkeitsmesser, angedreht hat. Sie messen das Falsche. Wenn die Temperatur aber sehr hoch wird, dann sinkt auch die Luftfeuchtigkeit, und der Regler ist so eingestellt, dass er dann die Heizung abschaltet.

Vielleicht finden Sie dieses Beispiel absurd, aber ich behaupte, diese falschen Messungen sind uns heute selbstverständlich geworden und ich behaupte auch, dass sie viel Unheil anrichten.

Als einer der Bürgermeister von London im 19. Jahrhundert gegen die Rattenplage angehen wollte, setzte er für jede gefangene und abgegebene Ratte eine kleine Belohnung aus. Jeder sollte Ratten jagen, sie töten und sie abliefern. Eine Intervention in das System London-Ratten-Bewohner. Die Idee ging gründlich schief: Die Leute begannen, heimlich und in großem Stil Ratten zu züchten, um an die Prämie zu kommen!

Ziel: Rattenbestand verringern 1) Intervention: Ratten abliefern lassen, mit Prämie belohnen 2) Systemreaktion: Möglichst viele Ratten abliefern 3) Ratten züchten

Ergebnis: a) Der ursprüngliche, natürliche Rattenbestand vergrößert sich, denn er wird durch die Maßnahme nicht beeinflusst. b) Insgesamt gibt es eine periodische Zunahme an Ratten mit dem Risiko weiterer Vermehrung.

Der Soll-Wert des Systems wird nicht direkt gemessen, sondern über einen Parameter, von dem der Bürgermeister annimmt, dass er den Soll-Wert abbildet. Stimmt diese Annahme nicht, dann entsteht eine falsche Rückkoppelung in das System. Gemessen wird der Erfolg der Rattenzucht und nicht die Abnahme der Ratten. Damit wird das System pathologisch. Ziel und Ergebnis laufen auseinander.

Pharmaindustrie: Die Messung bei der Therapie einer Krankheit sollte am Endpunkt stattfinden. Bei einem Medikament, das präventiv gegen Herzinfarkte wirkt, sollte gemessen werden, wie sich die Herzinfarktrate mit dem Medikament verändert. Sehr häufig wird jedoch die Messung an einem Surrogat-Endpunkt vorgenommen, beispielsweise misst man den Cholesterinspiegel. »Solche Surrogat-Endpunkte bringen Probleme mit sich. Sie stehen oft nur wenig mit der echten Krankheit im Zusammenhang, in einem sehr abstrakten, theoretischen Modell, und werden zudem meist in der realitätsfernen Welt eines Inzucht-Versuchstieres entwickelt, das unter strenger physiologischer Kontrolle gehalten wird.« (Vgl. Goldacre 2010, Pos. 1595) Nach dieser äußerst kritischen Ouvertüre erläutert der Autor präzise, welche Vielzahl von Bedingungen erfüllt sein müssten, um von einem Surrogat-Endpunkt auf einen tatsächlichen Endpunkt schließen zu können. Und selbst dann noch steht dieser Schluss nicht gerade auf festen Füßen. Regelkreistechnisch wird aber mit einem Surrogat-Endpunkt das Falsche gemessen.

Verschmutzungsrechte: Sie legalisieren Ressourcenverbrauch und Emissionen anstatt beides einzudämmen. Der Begriff selbst ist ein Oxymoron.

Die Einkaufsprozesse vieler Unternehmen scheinen mir auch die Rattenzüchter zu belohnen, obwohl die Grundidee wie bei fast allen pathologiegefährdeten Prozessen einer intelligenten Anfangsüberlegung entspringt. Aber erst einmal langsam: Wer über den Markt geht und Äpfel kaufen will, der sieht sich das Angebot an (Farbe, Sorte, Zustand, Geruch, Gefühl), blickt auf das Preisschild und trifft seine Einkaufsentscheidung. Das geht, weil der einzelne für sich verantwortlich ist. Auch Unternehmen kaufen ein, aber der Prozess muss ein anderer sein: »Wir können nicht jeden Ingenieur fragen, welche Dichtungen er gerne hätte.« Folglich werden Einkaufsprozesse zusammengefasst, vereinheitlicht, zentralisiert, ökonomisiert und so fort. Die Idee, ein klares Zahlenwerk über die extern angeforderten Waren und Dienstleistungen zu erhalten und damit auch die Einkaufsposition in manchen Bereichen zu stärken, diese Idee ist sicherlich von großem Vorteil. Sie funktioniert bei hohen Stückzahlen oder/und bei sehr klar definierbaren Spezifikationen am besten. Schrauben, Schreibmaschinenpapier, Büromöbel, Reagenzgläser oder Reagenzien und so fort. Aber beim Einkauf von Federn für Zündschlösser, beim Einkauf externer Trainer oder Berater, beim Einkauf eines neuen Abteilungsleiters und so fort, passen die Schrauben-Prozesse nicht mehr. So entstehen nicht zu unterschätzende Probleme für Unternehmen! Denn durch diesen Vorgang werden der Preis und der Wert entkoppelt. Natürlich nicht ganz, es gibt eine Beziehung zwischen beiden Größen, aber die ist nur korrelativer Natur. Der Wert beinhaltet alle materiellen und immateriellen Folgekosten eines Einkaufs. Ein gutes Beispiel ist hier die Automobilindustrie. Viele Rückrufaktionen lassen sich darauf zurückführen, dass die Suche nach dem immer noch billigeren Material Qualitätsverluste erzeugen musste! Weil es beispielsweise doch noch eine dünnere, günstigere Feder zum Einbau in Zündschlösser gab (GM 2014, vermutlich auch Todesfälle durch falsch funktionierende Zündschlösser). Die richtige Messung würde die Qualität von Produkt (und Zulieferer) in den Mittelpunkt stellen und erst später Preisunterschiede prüfen.

Systemtheoretisch betrachtet und auf unser Regelkreis-Modell übertragen, wird der Regelprozess mit Inhalten gefüttert, für die das Regelsystem nicht gebaut ist. Ich hatte bereits das Sender-Empfänger-Modell gebrandmarkt: Es ist für die Sende- und Empfangstechnik ein sinnvolles Modell. Für die Hersteller von Handys und Sendemasten. Die Übertragung allerdings auf den zwischenmenschlichen Kommunikationsprozess führt in die Irre.

Auch in meinem Bereich (Training, Beratung, Konfliktbearbeitung, Coaching) erlebe ich immer wieder, dass das Falsche gemessen wird. Die zentrale Variable bei Training und Beratung ist die nachhaltige Wirkung (NW). Es gilt, dass sich die effektiven Kosten (EK) einer Maßnahme aus dem Quotienten aus initialen Kosten (IK, durch die Teilnehmer investierte Zeit, Trainerhonorar, Raumkosten und so fort) und NW errechnen.

EK = IK/NW

Geht NW gegen Null, steigen die effektiven Kosten gegen Unendlich. Ein sinnloses Training oder gar eines, gegen das die Teilnehmer Widerstände entwickeln, kommt Unternehmen teuer zu stehen. Wenn der Einkauf den Fokus zu stark auf IK legt (was häufig der Fall ist), dann kann teurer Unsinn entstehen. Die EK werden sich erst zeitversetzt zeigen, IK kann man sofort messen. Schon Kirkpatrick (2012) hat in den 1950er-Jahren den Wert von Trainings- und Beratungsmaßnahmen auf vier Ebenen gemessen: 1. Wie empfinden die Teilnehmer die Maßnahme? 2. Ist irgendeine Form von Lernen eingetreten? 3. Wirkt sich dieses Lernen im Verhalten/Denken der Teilnehmer an ihrem Arbeitsplatz aus? 4. Profitiert das Unternehmen davon?

Kurz: Nicht, was eine Maßnahme kostet, ist entscheidend, sondern was sie bringt. Somit sind die Initialkosten vielleicht sogar der belangloseste Faktor. Ein schlechtes Training kann den Sinn von Trainings über lange Zeiträume verunglimpfen (»Wieder so ein doofes Psycho-Training!«). Zumindest müsste im Falle von Trainingsmaßnahmen das Urteil der Teilnehmer Gehör finden. Aber man misst eben lieber das, was sich leicht messen lässt und nicht das, was die höchste Aussagekraft hat.

Noch ein Beispiel: Man weiß, dass Konfliktkosten (im Internet findet man mittlerweile Konfliktkostenrechner) in der Regel sehr hoch sind. Naturgemäß schwanken die Zahlen, aber man kann wohl sagen, dass ein ausgewachsener Konflikt zwischen zwei Abteilungsleitern mit 50.000 bis 500.000 Euro per anno und noch mehr zu Buche schlagen kann. Welchen Sinn macht dann die Frage, ob der extern dazu geholte Konfliktmanager für einen Beratertag 500 Euro mehr oder weniger berechnet? Die einzig richtige Frage lautet: Kann der das oder nicht? Welche Reputation hat er? Was sagen andere, die mit ihm gearbeitet haben?

Die Entkoppelung von (Initial-)Preis und Wert stellt also eine falsche Rückkoppelung in das System dar, das ja eigentlich den Wert seiner Entscheidungen im Fokus halten muss. Ganz abgesehen davon, dass eine der Grundannahmen des Marktes, dass zwischen Qualität und Preis ein Zusammenhang besteht, in ihr Gegenteil verkehrt wird. Das ist eine Argumentationslinie, die ansonsten lautstark gerade von den Unternehmen verkündet wird, um die eigenen Preise zu erklären oder zu rechtfertigen, die auf der Einkaufsseite genau dieses Argument nicht gelten lassen. (Lopez-Effekt)

Dass die IT-Systeme selbst noch nach Jahren mit den falschen Messpunkten arbeiten, mag Folgendes anekdotisch verdeutlichen. Ich hatte 2014 einem Unternehmen mit einem Angebot meine Beratungsleistungen für eine bestimmte Fragestellung zukommen lassen. Das Angebot wurde akzeptiert. Die Bestätigung für meine Leistung enthielt den Hinweis: »Liefern Sie die Ware an Rampe 3 ab.«

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