Das Ende der Vertriebsabteilung: Die neue Agilität und Selbstorganisation im Vertrieb

Der Vertrieb ist prädestiniert, in selbstorganisierten Teams zu arbeiten und damit neuartige Vertriebsstrukturen ohne klassische Vorgesetztenfunktion zu etablieren. Die Philosophie des New Work mit der Forderung, das Konzept Arbeit der gesellschaftlichen liberalen Ordnung anzupassen, ist kein schnelllebiger Trend, sondern eine Entwicklung, die meiner Meinung nach nicht mehr aufzuhalten ist.

Klassische Chefs werden nicht mehr gebraucht

Nun ist die Forderung, ein Unternehmen ohne Chefs aufzubauen, ein ganz schön ambitioniertes Unterfangen, das gebe ich zu. Ein zuvor klassisch hierarchisch geführtes Unternehmen auf eine flache oder selbstorganisierte Struktur umzustellen, ist es umso mehr, das weiß ich aus Erfahrung. Auch ich kannte vor der Gründung meiner Unternehmen nichts anderes als die hierarchische Beziehung von Vorgesetzten zu Untergebenen – Befehlshaber und Befehlsempfänger. Daher war die Umstellung in meinen eigenen Unternehmen mit viel Trial and Error verbunden. Die wichtigste Erkenntnis, die ich selbst daraus gewonnen habe, ist, nicht zu viel auf einmal umzustellen. Zu meiner eigenen Überraschung muss ich sagen, dass sich gerade der Vertrieb perfekt dafür eignet, eine neue Ordnung in einem abgesicherten Modus wachsen zu lassen. Später lässt sich diese Ordnung dann auch in andere Teile des Unternehmens übertragen.

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Gerade hier im B2B-Vertrieb sind nämlich viele positive Effekte für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, das Produkt, die Kunden und letztlich das gesamte Unternehmen zu erwarten, wenn von autoritären Top-down-Strukturen in Abteilungen auf soziokratische Varianten in Einheiten oder Teams umgestellt wird. Das liegt daran, dass die Einheiten kompakter sind, Ergebnisse schnell auswertbar werden und die Eigenverantwortung klar artikuliert wird. Eine solche Einheit ist wie ein Unternehmen im Unternehmen, das eigene Ziele und Ergebnisse vorantreibt.

Die neue Organisation des Vertriebs durch Soziokratie

Kurz zur Begriffsklärung: Die eher autoritären Strukturen kennt wahrscheinlich jeder; Entscheidungen werden hier immer von oben (Vorgesetzter, Chefin) nach unten (Mitarbeiter, Angestellte) getroffen, also Top-down oder vom Leader zum Follower. Sowohl Ressourcen-Entscheidungen (Geld, Zeit, Personal) als auch inhaltliche Entscheidungen werden folglich nicht von den Menschen getroffen, die direkt von ihnen betroffen sind.

In soziokratisch organisierten Einheiten, Teams oder Unternehmen gilt das Prinzip der individuellen Gleichberechtigung und der gemeinsamen Entscheidung. Wir werden gleich noch sehen, was das bedeutet. Die Soziokratie ist ein Konzept aus der Systemtheorie, das seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in der Reformpädagogik angewendet wurde. Es dauerte allerdings mehr als ein halbes Jahrhundert, bis sie als Praxis auch in Unternehmen umgesetzt wurde. Heute ist die Soziokratie auch oft unter dem Namen Holokratie zu finden, die von Brian Robertson als kommerzielles System entwickelt wurde. Ich werde mich hier aber auf die Grundlagen der Soziokratie stützen und ansonsten meine eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse mit selbstorganisierten Teams erläutern. Seit der Jahrtausendwende wird die soziokratische Organisation übrigens auch oft im Zusammenhang mit Lean Management und agilen Methoden angewandt, die vor allem in Start-ups und nun auch zunehmend im Mittelstand und in Konzernen eingesetzt werden.

Was heißt aber nun Soziokratie? Ihr Name bedeutet frei übersetzt so viel wie gemeinsame Herrschaft, und das erklärt ihren Inhalt ja bereits ganz gut. Es herrschen also nicht mehr die Vorgesetzten, sondern die Führung wird gemeinsam organisiert. Dass sie zum Prinzip hat, Entscheidungen gemeinsam zu fällen, habe ich oben bereits erwähnt. In der Praxis bedeutet das, dass sich das Team zusammensetzt und über zu treffende Entscheidungen diskutiert. Diese werden am besten in kleinen, leicht umsetzbaren Schritten getroffen. Denn bei großen, grundlegenden Veränderungen besteht die Gefahr, dass kein Konsent (Achtung: nicht Konsens mit »s«) aller gefunden wird.

Es zählen also nicht Stimmen, sondern Argumente. Und am Ende entscheidet nicht die Chefin, sondern das Team selbst. Diesem Team, in unserem Falle einer Vertriebseinheit, verleiht diese Ermächtigung großes kreatives und innovatives Potenzial und den einzelnen Individuen ein großes Mitbestimmungsrecht und eine hohe Selbstwirksamkeit. Das nützt nicht nur der Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sondern auch dem Produkt und dem Kunden. Eine in einem interdisziplinären Team gemeinsam erörterte und getroffene Entscheidung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine bessere als eine, die mit der Mehrheit der Stimmen oder gar von einer einzelnen, in der Abteilungshierarchie höherstehenden Person getroffen wurde. Das Prinzip, als Chef alles zu wissen und allen zu sagen, wo es langgeht, hat ausgedient.

Wegen guter Führung entlassen

Es gibt selbstverständlich ein paar Voraussetzungen dafür, dass diese Organisationsmethode auch funktioniert. Die berühmten flachen Hierarchien zum Beispiel sind ein großes Hindernis für eine soziokratische Struktur und für die Ermächtigung aller Teammitglieder, auch wenn das zunächst paradox klingt. Flache Hierarchien sind oft so angelegt, dass es innerhalb der Abteilung zwar keine Hierarchie mehr gibt, der Abteilung aber nach wie vor ein Vorgesetzter vorsteht, was im schlechtesten Fall nur noch eine Hierarchiestufe übrig lässt: die Geschäftsführung. Das führt oft dazu, dass niemand in der Abteilung weiß, wer wem wann etwas zu sagen hat und wie man sich durchsetzt; wie Entscheidungen getroffen werden und wie die Regeln sind. Diese flache Hierarchie lähmt in der Folge jegliche Produktivität und jeglichen Entscheidungsprozess. Letztlich entscheidet dann also doch wieder alles die Abteilungsleiterin oder der Geschäftsführer, der wie ein Monarch über der Abteilung aus einander gleichgestellten Mitarbeitern steht. Und das, obwohl sie oder er vom laufenden Projekt wahrscheinlich von allen am wenigsten Ahnung hat. Wir haben lange gebraucht, um die Monarchie oder gar die Diktatur aus unserem gesellschaftlichen Leben zu verbannen. In vielen Betrieben herrscht sie noch heute, und zwar für jeden, meist vierzig Stunden in der Woche.

Die Kenntnis und Einhaltung der Regeln einer selbstorganisierten Struktur ist also extrem wichtig. Genauso wichtig ist aber der Führungsstil etwaiger Vorgesetzter. Allein aus rechtlichen Gründen sind Vorgesetzte in den meisten Unternehmensformen gar nicht wegzudenken, und das muss auch überhaupt nicht sein. Wichtig ist nur, dass sie lernen, richtig zu führen und sich ihrer Kompetenzen aufrichtig bewusst zu sein. Das ist sowohl für das Funktionieren der Rollen im Pair Selling als auch für das Funktionieren selbstorganisierender Einheiten (an Stelle von Abteilungen) ausschlaggebend.

Die Aufgaben von klassischen Vertriebsleitern sind vor allem Führung und Kontrolle. Für Letztere haben wir bereits am Beispiel des Pair Selling gesehen, dass sich Einheiten durch die Einteilung in Rollen in genügendem Maße selbst kontrollieren können. Kontrolle und Entscheidung von außen ist hier gar nicht mehr nötig.

Die Machtübertragung von Entscheidungsbefugnissen an viele Einzelne, das Empowerment der Mitarbeiter zum selbstständigen Handeln und Entscheiden ohne übergeordnete Kontrolle funktioniert aber auch nur dann, wenn etwa die Rollen nach wirklicher Kompetenz der einzelnen Personen zugeordnet werden. Jeder und jede muss wissen, was in welchem Moment zu tun ist, ohne auf die Anweisung eines Vorgesetzten zu warten. Die Bewertung dieser Kompetenz oder Expertise sollten das Team und seine Mitglieder gemeinsam vornehmen. Das fordert und fördert offene und klare Kommunikation. Denn wenn Rollen und Aufgaben nicht gemeinsam klar definiert werden, führt das wiederum zu Missverständnissen und unklaren Zuständigkeiten.

Im Pair Selling wird letztlich auch die direkte Führung überflüssig. Denn mit Übertragung der Macht kommt für die Teammitglieder die Übernahme der Verantwortung hinzu. Alle haben dieselbe Verantwortung für das Funktionieren des Teams. Nur so kann sich wirklich eine Identifikation mit dem Team und ein Wirgefühl einstellen – an Stelle eines Wir-gegen-die. In der Praxis hat sich zudem gezeigt, dass heterogene, interdisziplinär besetzte Teams aus Frauen und Männern viel harmonischer und effizienter arbeiten als homogene.

Wenn Sie gerade oder zukünftig planen, ein Vertriebsteam um sich herum aufzubauen, achten Sie darauf, dass Sie ein paar Regeln befolgen, die Führungskräfte in soziokratischen Strukturen ausmachen. Bisherige Führungskräfte wandeln ihre Rolle oft zum Coach, zum Mentor und Moderator um. Die neue Führungskraft versteht ihre Aufgabe darin, den Rahmen zu setzen, damit das Team sein volles Potenzial entfalten kann. Sie ist sich bewusst, dass die eigene Kompetenz Grenzen hat. Glücklicherweise profitiert die neue Führungskraft vom Know-how und den Erfahrungen anderer. Hat sie gerade jemanden geführt, also ihr Wissen und Erfahrungen übertragen, so ist sie auf den umgekehrten Transfer eines anderen Fachbereiches und einer anderen Kategorie angewiesen. Ermutigen und ermächtigen Sie Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im oben erläuterten Sinne zu Selbstbestimmtheit, Vertrauen, Verantwortung und Entscheidungsfähigkeit – solange diese natürlich die nötigen Fähigkeiten für ihre Aufgabe mitbringen, damit Kenntnisse an Sie und andere Mitarbeiter weitergegeben werden können . Geben Sie selbst Kontrolle und Macht ab. Auch wenn Sie manches vielleicht besser wissen, behalten Sie es für sich. Ihre Mitarbeiter müssen es selbst lernen. Und wenn diese in einer Sache eine höhere Expertise haben als Sie selbst, freuen Sie sich darüber. Nehmen Sie Ihr Ego etwas zurück. Ein Chef muss und kann heute nicht mehr alles wissen und alles ansagen. Das Know-all-tell-all-Denken ist überholt, denn Problemstellungen sind heute im B2B zu komplex, um hierarchisch von einzelnen Entscheidern gelöst werden zu können. Wenn alle Entscheidungen weiterhin über Sie laufen, jeder Prozessschritt von Ihnen abgesegnet werden muss und Sie jeden Mitarbeiter zum nächsten Schritt anweisen müssen, dann wird Ihre Vertriebseinheit nicht ihr volles Potenzial entfalten. Sind Sie Gesellschafter, Geschäftsführer oder Inhaber, gilt dies ebenso: Ihr Unternehmen wird dann ohne Sie nicht gut aufgestellt sein. Egal, ob Sie sich vielleicht einmal eine Auszeit nehmen möchten oder aus anderen Gründen selbst nicht mehr mitarbeiten wollen – ohne Sie wird nichts funktionieren.

Wenn Sie Ihr Team stattdessen so aufbauen, dass alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen intrinsisch motiviert sind, also nicht von Provisionen gelockt werden, sondern ihre Aufgaben gern und aus Überzeugung erledigen; wenn jeder ermächtigt ist, mit den anderen gemeinsam Entscheidungen zu diskutieren und zu treffen; wenn Sie sich zurücknehmen können und trotzdem nicht alles zusammenbricht – wenn Sie sich also mit dieser Art der Teamführung quasi selbst überflüssig gemacht haben, beweisen Sie damit Ihre Qualitäten als Führungskraft. Sie können sich als neues Teammitglied in der Vertriebseinheit willkommen heißen und sich in Ihrer Funktion als Vorgesetzter wegen guter Führung frühzeitig selbst entlassen.

Selbstorganisierte Teamarbeit in der Vertriebseinheit

Nachdem sich der Chef oder die Chefin also selbst gefeuert hat und Ihre Organisation aus Führenden verschiedener Kompetenzen besteht, lassen Sie uns ein selbstorganisiertes Vertriebsteam, eine Vertriebseinheit, aufbauen. Eine solche Einheit besteht meist aus drei bis fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, denen die schon im Kapitel über das Pair Selling (2.2) vorgestellten Rollen zugeteilt werden. Das sieht dann folgendermaßen aus:

Der Researcher hat die Kompetenz für die Bereiche Markt, Ansprechpartner und Recherche inne. Das heißt, er entscheidet, welcher Lead ins CRM eingetragen wird und wo und wie detailliert recherchiert wird. Natürlich dürfen die anderen Rollen wie Kontakter, Erklärer, Visionsträger et cetera Feedback geben und Kritik üben. Die letzte Entscheidung trifft in seinem Ressort aber der Researcher. Der Kontakter entscheidet, wie vorgegangen wird: Wie sehen die Regeln für das Erstgespräch aus, wie geht man mit der Tonalität im Gespräch um? Wie reagiert man auf Vorwände und Einwände? Die Beziehungsmanagerin entscheidet über die Fragen, die Kunden gestellt werden, und die Methodik des Beziehungsaufbaus. Die Erklärerin ist Oberhaupt über die Demonstration und Didaktik, bestimmt also, wie das Produkt erklärt wird. Und der Visionsträger ist schließlich der Joker, die Trumpfkarte, die immer dann zum Einsatz kommt, wenn die Entscheidung des Kunden über den Kauf kurz bevorsteht. Der Visionsträger hat in gewisser Hinsicht die größte Freiheit, denn er entscheidet alleine, wie er in einem Termin mit dem Kunden vorgeht und welche Karten er ausspielt. Während Researcher, Kontakter und Beziehungsmanager meist direkt dem Vertrieb zugeordnet werden, können Erklärerin und Visionsträger aus anderen Abteilungen stammen und brauchen nur Teile ihrer Kapazitäten in die Vertriebseinheit einzubinden.

Vergleich des Aufwands in verschiedenen Arten des Vertriebs

.Bei der Zusammenstellung eines Teams kann man zum Teil auch auf weniger erfahrenes, aber dafür motiviertes Personal zurückgreifen, denn die Komplexität der Aufgaben ist klar definiert und jeder kann nach seinen Fähigkeiten eingeteilt werden. Dadurch kommen auch spannende Konstellationen zustande. Stellen Sie sich ein Team vor, in dem junge Berufsanfänger und erfahrene Mitarbeiter zusammenarbeiten. Nur, dass nicht automatisch der Berufsältere das letzte Wort hat. Es kann schon vorkommen, dass dann die Geschäftsführerin in der Rolle der Visionsträgerin, die TikTok nicht unbedingt für ein angemessenes Akquise-Instrument hält, von der jungen Mitarbeiterin in der Rolle der Researcherin überstimmt wird.

Ich kann Ihnen nur empfehlen, dieses Modell einmal auszuprobieren. Ich weiß, es gehört gerade als Vertriebsleiter oder Geschäftsführerin ein wenig Mut dazu, seine Angestellten oder Mitarbeiter mit Macht zu versehen und selbst die Kontrolle aus der Hand zu geben. Aber glauben Sie mir, durch dieses Empowerment (Verantwortungsübertragung) werden Ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen eine ganz neue Qualität ihrer Arbeit kennenlernen und dementsprechende Ergebnisse liefern. Das Gute ist ja, dass Einheiten relativ klein sind und Fehler eben keinen Zusammenbruch des ganzen Betriebs nach sich ziehen. Ich verspreche Ihnen, Sie werden erstaunt sein, was passieren kann, wenn Mitarbeiter Ihr Vertrauen in sie spüren und über sich hinauswachsen dürfen.

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