Abhängig oder eigenständig?

»Ich komme mir vor wie eine Marionette. Stress am Arbeitsplatz, Stress zu Hause, Stress im Verein. Mein ganzes Leben ist von anderen Menschen bestimmt, ich bin nicht mehr Herr im eigenen Haus.«
Für so manchen ist dieser Zustand zum Synonym für Stress geworden. Doch ganz ohne Abhängigkeit geht es nicht, denn Sie gehört zum Leben dazu …

Nun muss uns klar sein, dass ein gewisses Maß an Beschränkung beziehungsweise an Abhängigkeiten zu jedem Leben dazugehören, auch zum unabhängigsten. Wer nicht als Einsiedler in einer Höhle und von mehr als nur Wurzeln und Beeren lebt, wird zum Beispiel immer auch auf Menschen angewiesen sein, die Dinge können, die er selber nicht kann. Außerdem müssen wir auch der Tatsache ins Auge sehen, dass mit zunehmendem Alter die Optionen zur Lebensgestaltung abnehmen. Und nicht nur, wer sich entscheidet, zu heiraten und das Wagnis Elternschaft einzugehen, weiß, was es heißt, nicht mehr alles wahrnehmen zu können, was das Leben so bietet.

Der Grad der Abhängigkeit

Einer der entscheidendsten Faktoren für unser Stresserleben ist der Grad der Abhängigkeit. Und zwar nicht, wie man meinen könnte, der objektiv vorhandenen Abhängigkeit, sondern der gefühlten Abhängigkeit. Es ist diese gefühlte Abhängigkeit, die darüber entscheidet, wie stressig eine Lebenslage empfunden wird oder nicht. Und selbst in Situationen extremer objektiver Abhängigkeit gibt es große Unterschiede in der gefühlten subjektiven Abhängigkeit.

Deutlich wird das zum Beispiel an Dietrich Bonhoeffer. Der evangelische Theologe war während des Dritten Reiches im weiteren Kreis der Widerstandskämpfer des 20. Juli und wurde kurz vor Kriegsende hingerichtet. Während seiner Gefangenschaft schrieb er das später berühmt gewordene Gedicht »Wer bin ich?«, aus dem die folgenden zwei Zeilen stammen:

»[…] sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle,
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.«

Es gibt wohl kaum einen Ort, der von größerer äußerer Beschränkung geprägt ist, wie das Gefängnis eines totalitären Staates. Doch selbst in dieser extremen Situation äußerer Abhängigkeit gab es offenbar Menschen, die in einer Art von innerer Freiheit lebten und sich so ein hohes Maß an Eigenständigkeit erhalten konnten.

Von der geistigen zur umfassenden Eigenständigkeit

Sicher, Bonhoeffer und Frankl waren in vielerlei Hinsicht Ausnahmen. Auch das Umfeld, in dem sie sich mit ihren Überzeugungen und Lebensaufgaben bewähren mussten, unterscheidet sich (jedenfalls was die Zeit des Dritten Reiches anbelangt) glücklicherweise doch sehr von unserem heutigen Leben. Trotzdem zeigen sie durch ihr Vorbild in außergewöhnlich schwieriger Lage auf, dass es in allen Situationen möglich ist, ein hohes Maß an innerer Souveränität, von geistiger Unabhängigkeit zu bewahren. Und bei allen Problemen, die auch uns das Leben richtig schwer machen können, müssen wir doch eingestehen, dass unsere Beschränkungen weitaus geringerer Natur sind, als diejenigen, mit denen sich Bonhoeffer und Frankl konfrontiert sahen. Ihre geistige Unabhängigkeit, die Macht über ihre Gedanken, war praktisch alles, was ihnen noch geblieben ist.

Doch wir haben das große Glück, dass wir heute in den deutschsprachigen Ländern Europas in großer äußerer Freiheit leben und (unter der Voraussetzung, dass wir keine schwereren Gesetzesübertretungen begangen haben) in unserer äußeren Bewegungsfreiheit in der Regel wenig eingeschränkt sind. Aus diesem Grund können wir von diesem Punkt der geistigen Unabhängigkeit auch zu einer umfassenden Eigenständigkeit gelangen, auch dann, wenn sie beispielsweise wirtschaftliche Unabhängigkeit nicht mit einschließt. Aber auch wenn die innere Unabhängigkeit nicht total ist, so ist sie doch so umfassend, dass wir weitere Schritte gehen und eigenständige Entscheidungen treffen können.

Eigenständigkeit im Stress

Der Grad der Eigenständigkeit entscheidet in außerordentlich hohem Maße über unsere innere Souveränität und damit über unseren Stress. Und der Grad der Eigenständigkeit ist wiederum eng verknüpft mit unserer Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Es ist dies eine Fähigkeit, die leider bei vielen nur sehr schwach entwickelt ist. So singt die bekannte Kölner Vokalpop-Band Wise Guys in einem ihrer Lieder:

Ich weiß nicht, was ich will
Ich kann mich nie entscheiden.
Ich versuche das Entscheiden
Möglichst zu vermeiden.
Ich weiß nicht, was ich will
Ich weiß nur eins: ich leide
stets bei Sachen mir zur Wahl:
Will ich keine oder beide?

Es gibt verschiedene Gründe, warum so viele Menschen mit allen Arten von Entscheidungen so große Schwierigkeiten haben. Ein ganz zentraler liegt sicher darin begründet, dass jede Ent-scheidung eben eine Scheidung bedeutet. Wenn ich »Ja« zu einer Sache oder einer Person sage, bedeutet das selbstverständlich, dass ich gleichzeitig »Nein« zu einer großen Zahl weiterer Optionen sage. Und wenn jemand sich immer alle Optionen offenhalten will, dann tut er sich eben schwer mit Entscheidungen. Doch der Preis des Nicht-Entscheidens ist hoch: er besteht unter anderem in einer permanenten inneren Unsicherheit, die an sich mit sehr viel unproduktivem, lähmendem Stress behaftet ist.

Im hier vorgestellten Gesundheitsförderungsprogramm Selbstbestimmt im Stress steht aus diesem Grund die Erarbeitung des persönlichen (!) Lebens- und Arbeitssinns, der persönlichen Ziele und der Konkretisierung der eigenen Werte ganz am Anfang.

Erst danach werden auch die Umstrukturierung Stress verschärfender Gedanken geübt, Ernährungstipps gegeben, Entspannungstechniken erlernt und so weiter. Damit setze ich im Buch die Vorgehensweise um, die sich in unzähligen Coachings und Seminaren der letzten Jahre bewährt hat. Das Programm ist die Grundlage aller Veranstaltungen des StressFrey-Instituts.

Der Weg zur Selbstbestimmung und inneren Unabhängigkeit ist nicht immer leicht, das ist sicher richtig. Manchmal haben wir es mit äußeren Widerständen zu tun, mindestens so oft aber auch mit inneren (schönen Gruß vom Schweinehund). Aber wenn wir lernen, unserem Leben einen Sinn zu geben, unsere wichtigsten Werte zu formulieren und daraus Ziele abzuleiten, die wir konsequent in unser Alltagshandeln übersetzen, dann werden wir eine innere Stabilität gewinnen, die uns eine ganz neue Energie verschafft. Eine Energie, die uns ein gesünderes Leben beschert, ein Leben, in dem Sie vieles von Ihrem heutigen Stress, mit einer großen Selbstverständlichkeit und Gelassenheit im Griff haben werden.

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