Wie man sich täuschen kann

Denkmuster sind manchmal ein ganz hilfreicher Automatismus. Sie helfen uns, schnell zu agieren, gutes von schlechtem zu trennen. Doch diese Denkmuster sind auch gefährlich denn sie schränken unsere Wahrnehmung ein, begrenzen unseren geistigen Horizont und führen uns oftmals in eine Sackgasse …

»Sabine, was ist denn mit dir los? Du strahlst ja so!«

Alexander wundert sich. Vor drei Monaten hat seine Kollegin Sabine aus dem Vertrieb ihre neue Stelle angetreten – in Hamburg, als Vertriebsleiterin einer Tochtergesellschaft seines Arbeitgebers. Sie ist mit ihrem Mann und beiden Kindern fünfhundert Kilometer weit in den Norden gezogen und lebt nun seit zwei Monaten in Hamburg, nachdem sie in den ersten Wochen noch gependelt war. Alexander hatte sie bedauert: Hamburg, eine fremde Umgebung, noch keine Freunde und Bekannten.

Alexander war schockiert gewesen, als er von Kollegen gehört hatte, dass man seiner Kollegin vermeintlich so übel mitspielte. Auch er hatte Sabine immer als zukünftigen Vertriebsvorstand in der Zentrale gesehen. Und dann hatten sie sie einfach wegbefördert. Das war wieder typisch, dachte Alexander: So eine wie Sabine, die kein Blatt vor den Mund nimmt und auch unangenehme Themen anspricht, die wollen die in der ›politisch korrekten‹ Vorstandsetage nicht haben. Wie schade!

Vor lauter Mitleid hatte er sich gar nicht getraut, sich bei Sabine zu melden – was sollte er ihr sagen? Nun skypen sie seit ihrem Wechsel gerade zum ersten Mal miteinander, um die Details eines Auftrags zu diskutieren, den die Zentrale an die Hamburger Tochter weitergegeben hat.

Doch Sabine scheint überhaupt nicht bedrückt zu sein. Sie wirkt entspannt, sieht frisch aus und lächelt unentwegt. Alexander ist verwirrt. Die müsste doch ziemlich deprimiert sein! Das will er genauer wissen.

»Freut mich ja, dass du dich von dem Schock scheinbar so gut erholt hast, Sabine. Ich konnte dir noch gar nicht sagen, wie sehr ich es bedauere, dass sie dich in den Norden geschickt haben. Das hast du wirklich nicht verdient. Kommst du denn einigermaßen zurecht mit den Menschen da oben? Wenigstens hast du die Jungs aus dem Vorstand nicht mehr täglich im Nacken …!«

»Du, Alexander, was ist denn da bei dir angekommen? So war das alles gar nicht – ich habe selbst um meine Versetzung gebeten!«

»Du hast was? Ist das die Sprachregelung, die du liefern musst? So ein Neuanfang, einfach so, von jetzt auf gleich, wieso solltest ausgerechnet du das machen? Da muss doch irgendwas dahintergesteckt haben, in Sachen Firmenpolitik … Jetzt mal ehrlich, mir kannst du es doch sagen!«

»Alexander, ich sage es dir ja: Ich wollte einen Tapetenwechsel. Ich wollte nicht die nächsten fünf oder zehn Jahre weiter auf einen Vorstandsposten hinarbeiten, den ich eigentlich gar nicht haben will. Ich will im Moment lieber mehr Zeit für meine Familie und mich haben. Das ist in den letzten drei Jahren deutlich zu kurz gekommen. Und wer weiß, was in zehn Jahren dran ist … Ich habe das auch so offen mit dem Vorstand besprochen und sie haben meinen Wunsch unterstützt. Wir hatten schon länger überlegt, wie und wo wir in der absehbaren Zukunft leben wollen. Ich habe um den Posten gebeten, weil er zu unserer Lebensplanung für die kommenden Jahre passt. Meine Schwester lebt auch hier, und ehrlich gesagt brauche ich die Zentrale und die ewigen Überstunden an diesem Punkt meines Lebens überhaupt nicht. Ich bin genau da, wo ich im Moment sein will. Mir geht’s einfach richtig gut gerade … obwohl oder sogar weil vieles hier völlig neu für mich ist!«

Alexander ist überrascht: Hatte er sich so geirrt? Hatten die Kollegen da etwas gründlich missverstanden und er letztendlich auch? Sabine, die solche Chancen hatte, bricht alle Zelte ab und will mehr Zeit für ihre Familie haben? Und der Vorstand hat sie nicht etwa weggeschickt, sondern unterstützt? So hatte er ›die da oben‹ noch nie betrachtet. Und wie es den Anschein hat, geht es Sabine blendend …

Sie merken schon: Sabines Worte werfen die ganze Geschichte, die Alexander sich über ihre Versetzung zusammengereimt hatte, über den Haufen. Das bringt ihn ins Grübeln. Und, wenn er ganz ehrlich ist, empfindet er in diesem Moment auch ein bisschen Bewunderung für seine Kollegin: Einfach alles hinter sich lassen und selbst gewählt in einer neuen Stadt neu anfangen – das hat was! Das wäre ihm selbst nach der Trennung von Tina nicht eingefallen, schon wegen der Kinder … Und wahrscheinlich hätte ihn ein kompletter Neuanfang zu diesem Zeitpunkt auch überfordert.

Die Denkmuster in Alexanders Kopf sind ganz typisch für den Automatismus, unerwartete und mit den eigenen Glaubenssätzen nicht kompatible Verhaltensweisen und Äußerungen anderer in gewohnte Schubladen einzusortieren. Doch wohin sich Gespräche entwickeln, wenn ich anderen etwas auf die Zunge lege, das mein Kopf hinzugedichtet hat, können Sie am obigen Gespräch nachvollziehen. Und nicht nur das: Mit dem Denken in Schubladen, Stereotypen und Glaubenssätzen schränken wir unsere Wahrnehmung der Welt, unseren geistigen Horizont, ein. Was wir anderen nicht zutrauen oder wünschen können, trauen wir nämlich oft auch uns selbst nicht zu.

Kopfkino trennt

Doch was sind das für Denkmuster, denen Alexander hier aufsitzt? Schauen Sie sich seine Äußerungen und Gedanken einmal genau an: Fast alles, was er in der Szene mit Sabine sagt und denkt, hat die Faktenebene komplett verlassen und entspringt allein seinem Kopfkino. Die Vermutung, Sabine wäre »wegbefördert« worden, ist reine Spekulation – und unwahr, wie sich nun herausstellt. Dass es Sabine schlecht gehen müsse, hat Alexander einfach unterstellt, weil er von sich aus gedacht hat, und lag damit ebenfalls daneben. Alexander ist noch nicht in der Lage zu sehen, dass Menschen immer einen guten Grund haben, etwas zu tun, nämlich dass sie versuchen, sich ein Bedürfnis zu erfüllen. Mindestens eins, sonst würden sie es nicht tun. Die Verurteilung von Sabines Versetzung war eine vorurteilsbeladene Bewertung eines neutralen Vorgangs, der in diesem Fall sogar gewünscht war.

In Alexanders Kopf läuft ein Film ab, den er für die Realität hält. Entsprechend unverständlich sind seine Äußerungen für Sabine. Die beiden reden anfangs aneinander vorbei, bis Sabine Klarheit schafft. Alexander wird von seinem Kopfkino beherrscht. Genau das ist unbewusstes, oftmals krankmachendes Denken. Wir vermischen unbemerkt das, was wirklich gesagt wurde, mit dem, was wir hineininterpretieren – wir wissen am Ende manchmal gar nicht, was tatsächlich gesagt wurde, so sehr hat sich unser Gedankenkonstrukt verselbstständigt.

Wenn wir Gesagtes nicht mehr von unseren eigenen Hirngespinsten trennen können, arbeiten wir einer Verständigung entgegen. Im Kopfkino denken sich viele Menschen selbst zu Opfern. Übernehmen Sie die Regie für Ihr Leben, denken Sie sich handelnd!

Bei meinen ersten Begegnungen mit Marshall Rosenberg wurde mir vieles klar. Ein wichtiger Punkt bezog sich auf mein Denken: Ich bin selbst verantwortlich für meine Gedanken, zu jeder Zeit, und ich bestimme damit, wie ich die Welt gerade erlebe! Welche geniale Freiheit und Selbstbestimmung! Das ist doch völlig klar, werden Sie jetzt wahrscheinlich denken, und da stimme ich Ihnen sofort zu. Dieser Satz war mir theoretisch schon bekannt, nur tagtäglich zu bemerken, was mich gerade denkt, oder was ich gerade denke und dass ich auch anders über eine Sache, eine Situation, eine Person denken kann und schwups ändert sich meine Welt – das erleichterte so viele Situationen und Begegnungen, dass ich mir das, so oft es ging, zur Aufgabe stellte! Anstatt uns selbst zu Opfern zu denken, können wir die Regie für unser Leben übernehmen, indem wir uns handelnd denken. Wenn ich erst verstehe, dass ich mir meine Welt durch meine Bewertungen erschaffe, wird auch deutlich, welche Verantwortung und Chance darin liegt, mein Denken möglichst gesund auszurichten.

Was denkt mich gerade? Moralische Urteile

Unser Denken wird häufig von unseren Urteilen und Bewertungen geprägt. Wir interpretieren, was wir hören und sehen, so, wie wir es gelernt haben – durch unsere Erziehung, unsere soziale Prägung, Meinungen aus unserem Umfeld und den Medien, durch gesellschaftlich anerzogene Wertmuster und die Summe unserer Erfahrungen – insbesondere der unangenehmen oder gar traumatischen.

Verstehen Sie an dieser Stelle bitte nicht, dass Sie nicht mehr urteilen dürften – das wäre unrealistisch. Wir werden urteilen bis an unser Lebensende, denn bestimmte Urteile sind dienlich und hilfreich, wie wir gleich noch feststellen werden. Es geht darum, dass Sie ab heute bemerken, dass Sie urteilen.

Rosenberg unterscheidet zwei Arten von Urteilen, die für die Kommunikation relevant sind: das moralische Urteil und das reflektierte Urteil (wie ich es nenne; Rosenberg selbst nennt es »Werturteil«). Der Unterschied besteht darin, dass wir im ersten Fall keinen Bezug zu unseren Bedürfnissen herstellen, sondern ein Verhalten oder eine Situation einfach automatisiert als »unmöglich«, »rücksichtslos« oder auch »nett« bezeichnen, ohne uns Klarheit darüber zu verschaffen, was uns zu dieser Bewertung kommen lässt.

Moralische Urteile trennen uns meistens von unserem Gegenüber. Wir verwenden unsere Energie und Aufmerksamkeit darauf, weitere Beweise zu finden, dass wir mit unseren vorgefassten Meinungen und Glaubenssätzen recht haben.

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