Warum Ihr Kopf so flexibel wie eine deutsche Behörde ist

Vielleicht haben Sie es schon häufiger gedacht: „Eigentlich gar nicht schwer. Klingt ja irgendwie auch ganz logisch. Aber irgendwie fällt es mir schwer umzudenken.“ Ich weiß nicht, wie alt Sie sind, aber ich vermute, dass Sie schon einige Jahre sozialer Prägung hinter sich haben: Die Schulzeit, die Ausbildung, das Studium, unzählige Weiterbildungen, die Jahre im Unternehmen, das alles hat Spuren hinterlassen. Und jetzt steht da in einem Artikel, dass Sie umdenken sollen.

Eine neue Führungsphilosophie nicht nur erlernen, sondern leben. Und das scheint Ihnen möglicherweise so schwer als würden Sie einen katholischen Priester davon überzeugen wollen, mit 55 doch noch schnell das Lager zu wechseln und den evangelischen Glauben anzunehmen. Selbst wenn Sie die besten Argumente der Welt hätten, wahrscheinlich würden Sie eher einen Pinguin zum Sprechen bringen als das zu schaffen.
Ähnliches werden Sie erleben, wenn Sie Mitarbeiter, die jahrelang durch das System von Befehl und Gehorsam geprägt wurden, dazu bringen möchten, kreativ zu denken und Regeln zu brechen. Es fällt diesen Mitarbeitern schwer, anders, neu und ausgefallen zu denken. Warum ist das so? Ich möchte Ihnen auf den folgenden Seiten einen kurzen Überblick über das geben, was in Ihrem Kopf und im Kopf Ihrer Mitarbeiter bezogen auf Kreativität passiert. Es wird Ihnen helfen zu verstehen, warum Sie Kreativität nicht einfach anordnen können. Und warum Sie einen langen Atem brauchen, wenn Sie Skeptiker von neuen Wegen überzeugen wollen. Sie wollen den Kampf gegen die Bedenkenträger in Ihrem Unternehmen aufnehmen? Dann sollten Sie wissen, warum diese häufig gar nicht anders können als Neues abzulehnen. Wenn Sie verstehen, was in den Köpfen vorgeht, werden Sie Ablehnung nicht mehr persönlich nehmen.

Diese grundsätzlichen Kenntnisse werden Ihnen Argumente geben, wenn Sie eine bestimmte Aufgabe einmal nicht an die Mitarbeiter weitergeben, die darin die größte Erfahrung haben, sondern an die Mitarbeiter, die mit neuem und frischem Blick an die Aufgabe herangehen. Die folgenden Seiten werden es Ihnen einfacher machen zu verstehen, warum es sinnvoll ist, Mitarbeiter mit verschiedenen Denk- und Sichtweisen an kreative Projekte heranzulassen. Oder Außenstehende in Workshops mit einzubeziehen. Und diese Kenntnisse werden Sie dabei unterstützen, mit Ihren eigenen Zweifeln umzugehen. Wenn Sie verstehen, wie Ihr Kopf funktioniert, werden Sie sich häufiger einmal fragen können: „Sind meine Gründe real? Oder lehne ich bestimmte Denkweisen nur ab, weil sie ungewohnt sind?“

Erfahrung: Wertvolles Kapital mit einer Kehrseite

Im Laufe unseres Lebens entwickeln wir sehr genaue Vorstellungen davon, wie Dinge korrekt erledigt werden, welche Lösungen funktionieren und welche Ansichten richtig sind. Als Manager bekommen Sie ein Gespür dafür, was Kunden wünschen, wie Mitarbeiter geführt werden sollten und wie ein Unternehmen strategisch ausgerichtet werden muss. Ein Universitätsprofessor hat genaue Vorstellungen davon, welches Wissen für seine Studenten wichtig ist, ein Politiker weiß, wie man sich ausdrücken muss, damit man nicht falsch interpretiert wird, ein Journalist kann zielsicher beurteilen, welche Themen für den Abdruck in einer Zeitung wichtig und welche unwichtig sind.

Dieses Wissen ist das Kapital erfahrener Menschen. Erfahrung ist gerade in unübersichtlichen Zeiten ein guter Lotse, sie ist unerlässlich, um aus dem Bauch heraus Entscheidungen zu treffen. Stellen Sie sich vor, Sie müssten vor jeder Entscheidung eine Pro- und Kontra-Liste aufstellen. Sie würden es nicht einmal schaffen, morgens pünktlich zum Arbeitsplatz zu kommen. Frühstücksei oder nicht? Die braunen Schuhe oder die schwarzen Schuhe? Auto fahren oder den Zug nehmen? Die Zeitung von vorne bis hinten durchlesen oder nur das, was wichtig ist? Für all diese Entscheidungsfragen kennt Ihr Kopf eine fantastische Abkürzung: Die Erfahrung. „Ich bin schon immer Auto gefahren, so auch heute.“ Punkt. Nachgedacht wird immer nur, wenn es um Grundsätzliches geht. Steht die Entscheidung einmal, dann bitte nicht mehr an ihr rütteln. Denn die Erfahrung hat gezeigt, dass sie gut ist. Erfahrung lässt sich an keiner Schule erlernen und durch nichts ersetzen. Ihre Erfahrung macht Sie einmalig. Dass Sie auf das Kapital Ihrer Erfahrungen zurückgreifen und sie im Bruchteil einer Sekunde anwenden können, ist ein Wunder, dessen Entstehung zu den faszinierendsten Leistungen des menschlichen Gehirns gehört.

Der Radarfallen-Reflex

Sie fahren in Ihrem Auto mit überhöhter Geschwindigkeit auf einer Landstraße. Plötzlich bemerken Sie rechts am Straßenrand eine Radarfalle. Sofort treten Sie auf die Bremse. Warum haben Sie gebremst? Mit hoher Wahrscheinlichkeit lautet Ihre Antwort: „Ich bin zu schnell gefahren und wollte keine Strafe zahlen.“ Diese Aussage klingt schlüssig, ist aber nur im Prinzip richtig. Denn es würde voraussetzen, dass Sie über die Konsequenzen nachgedacht haben. Haben Sie das? Haben Sie innerlich abgewogen, was dieser Kasten am Straßenrand wohl zu bedeuten hat und welche Konsequenzen es hätte, wenn es gleich blitzen würde? Wahrscheinlich nein. Sie haben reflexartig gebremst. Sie wurden nicht von Ihrem aktiven Verstand, sondern Ihrer Erfahrung geleitet, einem schwer definierbaren Gefühl, das Ihnen gerade einige Punkte in Flensburg erspart hat.

Im täglichen Leben werden wir mehr von Gefühlen wie dem Radarfallenreflex geleitet als uns bewusst ist, vielleicht sogar mehr als uns lieb ist. Wer sich mit diesen unterbewussten Vorgängen beschäftigt, versteht, warum Erfahrung ein einmaliges Kapital ist, das wertvoll, aber auch hinderlich sein kann. Denn das Kapital Erfahrung hat eine Kehrseite: Es birgt die Gefahr in sich, dass vieles so bleibt, wie es schon immer war. Die Probleme von heute werden so angegangen wie die Probleme von gestern. Jahrzehntelange Wahrheiten müssen nicht überprüft werden, weil sie schließlich jahrzehntelange Wahrheiten sind.

Wenn Sie sich ausschließlich auf Ihre Erfahrungen verlassen, verlieren Sie schnell den Blick dafür, dass alles auch ganz anders sein könnte. Vielleicht werden Sie jetzt sagen: „Ich bin nicht so! Ich bin flexibel im Denken!“ Wenn das wahr wäre, wären Sie ein hirnbiologisches Wunder. Unser Gehirn drängt geradezu darauf, dass wir einmal bekannte Lösungen nicht ständig wieder infrage stellen. Unser Gehirn ist in diesem Bereich so flexibel wie eine deutsche Behörde.
Das Amt für emotionale Stabilität
Stellen Sie sich Ihr Gehirn für einen Moment als riesige Behörde vor, deren wichtigste Aufgabe darin besteht, für ein ausgeglichenes Lebensgefühl und emotionale Stabilität zu sorgen. Zehntausende Beamte sind damit beschäftigt, Informationen zu sammeln und zu bewerten, Anfragen zu beantworten und Entscheidungen zu treffen. Jeden Tag werden neue Akten angelegt, bearbeitet und ergänzt, ganze Berge von Akten werden auf kleinen Rollwagen durch die Gänge geschoben. Von diesen vielen kleinen Dingen bekommen Sie als Behördenleiter nichts mit. Offen gesagt wollen Sie auch nicht zu viel mitbekommen. Zu viele Details würden Sie verwirren.

Ähnlich funktioniert unser Gehirn. Der Großteil dessen, was in unserem Kopf vorgeht, gelangt niemals in das Bewusstsein. Sie bekommen davon nichts mit. Und wenn es in unser Bewusstsein gelangt, dann niemals vollständig. Das Unterbewusstsein ist ständig damit beschäftigt, Informationen zu filtern, mit Assoziationen anzureichern und in leicht konsumierbare Häppchen zu verwandeln.

Wie das Gehirn Informationen filtert

Ein sehr wichtiger Teil Ihrer inneren Behörde ist die „Abteilung zur Bewertung eingehender Reize“, die darüber entscheidet, ob eine Information an die Chefetage, eine Fachabteilung oder den Papierkorb weitergeleitet wird. Als Behördenleiter werden Sie nur dann involviert, wenn der Vorgang neu und wichtig ist.

Der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth geht davon aus, dass das menschliche Unterbewusstsein Informationen nach einem solchen Muster vorfiltert. Es gibt ein System, das darüber entscheidet, ob sich Ihr Bewusstsein mit einem Problem beschäftigt, Sie also Ihre Aufmerksamkeit einer Sache widmen oder nicht. Dieses System, so Roth, unterteilt alles, was Sie wahrnehmen, nach den Kriterien „wichtig – unwichtig“ sowie „bekannt – nicht bekannt“: „Nur wenn die Bewertungsinstanz ein Geschehnis oder eine Aufgabe als wichtig oder neu einstuft – etwa wenn neue Bedeutungen zu erfassen, komplexe Probleme zu lösen und neue motorische Fähigkeiten zu erlernen sind –, wird das Bewusstseins- und Aufmerksamkeitssystem voll eingeschaltet.“
Auch an Vollständigkeit ist Ihr Gehirn nicht interessiert. Um komplette Sachverhalte zu erfassen, genügen einige Schlüsselinformationen. Ihr Kopf reduziert die anfallende Datenmenge drastisch: Auf ein Millionstel. Anschließend reichert Ihr Kopf die Daten mit Assoziationen an und verknüpft sie mit Bekanntem. In der Wissenschaft wird dieser Vorgang auch der „Flaschenhals der Reduktion“ (nach Becker-Carus) genannt. Zur Verdeutlichung ein paar Zahlen: In jeder Sekunde strömen circa 109 bit auf das menschliche Gehirn ein. Diese Daten werden auf 102 bit/s reduziert und anschließend auf 107 bit/s angereichert. Auch ohne den Taschenrechner zu zücken wird schnell klar: Wir alle bekommen von der Realität fast nichts mit.

Der Autopilot in Ihrem Kopf

Noch etwas verhindert Kreativität. Unser Kopf neigt dazu, auf Autopilot umzuschalten, und möchte am liebsten den Großteil des Arbeitstages im Modus „Autopilot“ verbringen. Versetzen Sie sich kurz in Ihre Fahrschulzeit zurück: Damals konnten Sie kaum das Gas- vom Bremspedal unterscheiden und brachten beim Abbiegen jeden zweiten Fußgänger in Lebensgefahr. Und heute? Spiegel, Blinker, Blick zur Seite, Spur wechseln. Dieser Vorgang, der Ihren Fahrlehrer damals an den Rand der Verzweiflung brachte, läuft vollautomatisch ab. Während Ihr Unterbewusstsein Sie durch den Stadtverkehr lotst, können Sie über die Freisprechanlage mit Ihrem Chef telefonieren, Verhandlungen mit Geschäftspartnern führen oder sich über den schlechten Service Ihres Mobilfunkanbieters beschweren. Sie haben den Kopf frei für die großen Dinge und Entscheidungen des Lebens, Ihr Unterbewusstsein regelt den Kleinkram. Oder anders ausgedrückt: Ihr Gehirn kommt ganz gut ohne Sie zurecht.

Auch dieses Phänomen kann die Forschung erklären: Wenn Sie Informationen abspeichern, entstehen in Ihrem Gehirn Bahnen, gigantische Zellennetzwerke, denen zum Teil komplette Aufgaben übertragen werden. Wissenschaftler reden von sogenannten neuronalen Netzen. Wenn Sie häufiger mit einem bestimmten Problem konfrontiert werden, legt Ihr Gehirn Lösungsmuster an. Werden Sie anschließend erneut mit dem Problem konfrontiert, aktiviert Ihr Gehirn diese biochemische Verknüpfungen und die Lösung ist da. Je mehr sich dieser Prozess automatisiert, desto weniger bekommen Sie davon mit. Radarfalle? Bremsen! Gerhard Roth formuliert es so: „Unser Gehirn versucht stets, Abläufe so weit wie möglich zu automatisieren (und damit aus dem Bewusstsein zu verbannen); denn dadurch wird seine Arbeit schneller, effektiver und stoffwechselphysiologisch billiger.“
Kreativität: Ein Frontalangriff auf Ihre Denkmuster

Je ausgefeilter Ihre Lösungsmuster werden, desto klarere Vorstellungen entwickeln Sie von dem, was gut und was schlecht, was wichtig und was unwichtig ist. Sie überlegen nicht mehr, Sie bekommen ein Gefühl dafür, wie Dinge zu bewerten und zu erledigen sind. Ich wette, dass Sie sich zu Beginn Ihrer Karriere weit mehr an Musterlösungen und Methoden geklammert haben als Sie es heute tun. Und dass Sie heute viel besser darin sind zu improvisieren. Warum? Weil Sie ein Gefühl für Ihre Aufgabenbereiche bekommen haben. Was Sie als „Gefühl“ wahrnehmen, ist in Wahrheit die Essenz einer jahrelangen Informationsanalyse.

Am Anfang überlegen Sie als Manager, wie Sie Ihr gesammeltes Wissen aus der Business School oder dem BWL-Studium plötzlich umsetzen sollen. Sie rätseln, ob es besser ist, Ihrem Vorgesetzten eine SWOT-Analyse vorzuschlagen, eine Marktsegmentierung anzuregen oder den Mund zu halten. Vom ersten Tag an analysiert Ihr Kopf das Verhalten anderer Führungskräfte, lernt, welche Methoden als gut und welche als schlecht betrachtet werden, und achtet darauf, wie Ihr Verhalten ankommt. Sie passen sich an die Kultur Ihres Unternehmens an. Ihr Gehirn läuft dabei auf Hochtouren. Sie bemerken es nur dadurch, dass Ihnen abends der Kopf schwirrt und Sie sagen: „Heute war so viel Neues, ich muss das erst einmal verarbeiten.“ Ihr Hirn bewertet jede neue Information nach dem Schema „gut“ beziehungsweise „schlecht“, wobei es Teile fremder Bewertungssysteme übernimmt und zu eigenen macht. Jedes Mal, wenn Sie eine Empfehlung abgeben und Ihr Chef freundlich nickt, speichert Ihr Kopf: „Gut.“ Und jedes Mal, wenn Sie auf Granit beißen, speichert Ihr Kopf: „Schlecht“. So entsteht das, was wir die „Scheren im Kopf“ nennen, unbewusste Denkschranken, die ganze Unternehmen, ja mitunter ganze Branchen prägen. Über diese Scheren im Kopf werden Sie gleich noch mehr erfahren.

Das Gefühl für eine Sache entsteht aus Hunderten, wenn nicht Tausenden solcher Bewertungsvorgänge. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum neue Ideen einem Frontalangriff auf die bewährten Denkmuster gleichkommen und warum wir häufig Schwierigkeiten haben, neue Ideen mit offenen Armen aufzunehmen. Ihr Gehirn ist äußerst träge, wenn es darum geht, die alten Denkweisen abzulegen. Offen gesagt können wir darüber auch ganz froh sein: Wer möchte schon jeden Tag mit seiner Lebensphilosophie bei null anfangen?

Veränderung kommt nicht von alleine

Das „Amt für emotionale Stabilität“ hat nur ein sehr begrenztes Interesse daran, bewährte Bewertungssysteme und Lösungsansätze von sich aus infrage zu stellen. Schließlich war es harte Arbeit, sie aufzubauen. Deshalb gilt: Wie in einer echten Behörde kommt Veränderung selten von alleine. Wenn Sie sich als Leiter damit zufriedengeben, dass Ihre Mitarbeiter pedantisch die Vorschriften einhalten und Dinge genau so erledigen, wie sie schon immer erledigt wurden, dann wird folgendes passieren: Ihre Mitarbeiter werden pedantisch die Vorschriften einhalten und Dinge genau so erledigen, wie sie schon immer erledigt wurden.

Wenn Sie etwas verändern wollen, müssen Sie die Initiative ergreifen und Ihrer Gehirnverwaltung einen Tritt geben. Sie müssen die Vorschriften außer Kraft setzen und für bekannte Probleme bewusst, ganz bewusst, neue Lösungsansätze finden. Wie in einer echten Behörde werden Sie dabei auf Widerstand stoßen. Akzeptieren Sie diesen Widerstand als hirnbiologisches Phänomen, aber lassen Sie sich nicht beirren. Veränderung ist unbequem. Wie in einer echten Behörde eben.

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