Psychische Gesundheit wird in westlichen Gesellschaften als universelles, neutrales Ideal verkauft. Als ein Zustand maximaler Funktionalität, innerer Harmonie und sozialer Anpassungsfähigkeit. Diese Vorstellung ist jedoch keine objektive Wahrheit, sondern eine gesellschaftlich konstruierte Norm, die in erster Linie dem sozialen Ordnungsinteresse dient.
Die Pathologisierung abweichender Zustände – von Depression über Angst bis hin zu Persönlichkeitsstörungen – ist kein naturwissenschaftlicher Imperativ, sondern ein sozialer Selektionsmechanismus. Wer „psychisch gesund“ ist, gilt als leistungsfähig, belastbar und gesellschaftlich kompatibel. Wer abweicht, wird wahlweise therapiert, medikalisiert oder marginalisiert. Und genau das ist das Problem – die praktische Beliebigkeit der Definition.
Historisch betrachtet zeigt sich die Willkürlichkeit dieser Definitionen deutlich: Homosexualität galt noch bis 1992 in der WHO als psychische Störung. Hysterie war im 19. Jahrhundert ein diagnostisches Sammelbecken für alle Frauen, die nicht in patriarchale Rollenmuster passten. Solche Beispiele entlarven die vermeintliche Objektivität psychischer Krankheitsbegriffe als Projektion normativer Erwartungen.
Sie existiert nur, solange Individuen sich bereitwillig den stillschweigenden Regeln der Anpassung unterwerfen. Wer sich diesen Regeln entzieht, wird nicht als Pionier der Selbstbestimmung gefeiert, sondern als „krank“, „instabil“ oder „nicht arbeitsfähig“ etikettiert.
Auf einer funktionalen Ebene sichert dieses Konstrukt den reibungslosen Ablauf in Arbeitswelt, Bildungssystem und öffentlichem Leben. Es definiert, wer Zugang zu Ressourcen erhält und wer sanktioniert wird. In diesem Sinne ist psychische Gesundheit kein individuelles Ziel, sondern ein gesellschaftliches Steuerungsinstrument; ein normatives Korsett, das uns zwingt, Funktionsfähigkeit über Authentizität zu stellen.
Die „gesunde Psyche“ ist in Wahrheit ein performativer Akt
Die Konsequenz: Psychische Gesundheit ist weniger ein biologisches Faktum als eine stille Übereinkunft, die das Primat der Produktivität maskiert. Wer nicht funktioniert, wird nicht geheilt, sondern kompatibel gemacht.
Psychische Gesundheit ist keine naturwissenschaftlich messbare Konstante,
Prof. Dr. Dr. Oliver Hoffmann
sondern ein ideologisches Werkzeug zur Durchsetzung sozialer Konformität.
Und was bedeutet das?
Psychische Gesundheit ist keine zukunftsweisende Steuergröße für Unternehmen, weil sie primär der Aufrechterhaltung von Anpassung und Funktionalität dient, nicht echter menschlicher Entfaltung.
Sie operiert als normatives Korsett, das Abweichung pathologisiert und damit Innovations- sowie Konfliktfähigkeit systematisch unterdrückt.
Statt psychischer Gesundheit sollten Unternehmen auf psychologische Resilienz, Ambiguitätstoleranz und kreative Selbststeuerung setzen – als dynamische, zukunftsfähige Ressourcen jenseits starrer Funktionsnormen.

Prof. Dr. Dr. Oliver Hoffmann ist Professor für Innovationsmanagement und Experte für Wirtschafts- und Innovationspsychologie. Er erforscht psychologische Bedingungen zukunftsfähiger Arbeit und KI-Auswirkungen auf Kommunikation, Kreativität und Entscheidungsprozesse. Er berät internationale Unternehmen an der Schnittstelle von Technologie, Psychologie und strategischer Transformation.