Probieren geht über studieren

Immer wieder tauchen neue Managementmethoden auf. Sie sollen finanzielle oder rechtliche Risiken minimieren, Wertschöpfungsketten optimieren Fehler vermeiden … Doch in einem Bereich sind Sie hinderlich: Bei Innovationen – Erfindungen eben. Denn Fehler lassen sich nicht vermeiden, sie gehören zu Entwicklungsprozessen dazu. Edison hat die Glühbirne auch nicht an einem Tag erfunden …

In den vergangenen Jahrzehnten wurden Hunderte von Managementinstrumenten entwickelt, deren Ziel es vor allem war, Risiken entlang der Wertschöpfungskette zu minimieren. Diese Managementinstrumente sind in vielen Bereichen eines Unternehmens äußerst sinnvoll, beispielsweise wenn es darum geht, rechtliche und finanzielle Risiken im Vorfeld einer Entscheidung zu betrachten. Im Innovationsbereich ist es sinnvoll, neben den Chancen einer Idee auch deren Risiken zu betrachten. Allerdings lassen sich Fehler trotz exakter Berechnung von Risiken nicht immer vermeiden. Im Gegenteil: Zu einem Entwicklungsprozess gehören sie dazu.

Die in unserer Studie untersuchten Unternehmen haben dies zum größten Teil erkannt. Marktanalysen, Kundenbefragungen, Konzepttests und andere Mittel sind zwar nicht abgeschafft, die Unternehmen haben jedoch ihre Abhängigkeit von diesen Instrumenten drastisch verringert. Denn sie führen oft zu einem Entscheidungsvakuum: Weil die Marktforschung dagegen spricht, traut sich niemand, eine klare Entscheidung zu treffen. Die Folge: Es wird die nächste Analyse in Auftrag gegeben oder eine Entscheidung vertagt.

In der Praxis ist es häufig so, dass Innovationen, die auf den Markt kommen, Kundenbedürfnisse verändern oder solche erzeugen, die es vorher noch gar nicht gab. Oder aber, dass Kunden in der Praxis Produkte ganz anders verwenden, als es in der Theorie vorgesehen war. Diese Erfahrung machte Nokia, als das Unternehmen 2007 die offene Internetplattform Beta Labs online stellte. Auf dieser Plattform können Nutzer neue Anwendungen, die sich noch in der Beta-Phase befinden, herunterladen, testen und kommentieren. Die noch nicht fertige Mobilfunkanwendung „Sports Tracker“ wurde mehr als eine Million Mal heruntergeladen. Die Konsumenten haben sie in einer Art und Weise verwendet, wie es die Entwickler niemals zu träumen wagten.

Statt eine Kultur der Risikovermeidung zu schaffen, haben die Unternehmen eine Fehler- und Experimentierkultur aufgebaut, die innerhalb definierter Rahmenbedingungen das erlaubt, was in vielen Unternehmen schwerfällt: Dinge auszuprobieren und dabei das Risiko in Kauf zu nehmen, bewusst zu scheitern.

Research in Motion: Die „9 von 10“-Regel

Mike Lazaridis, einer der drei Gründer des Unternehmens, hat eine klare Einstellung. Für ihn sind Fehler normal, sie sind ein Teil des Innovationsprozesses. Wenn es darum geht, Dinge für den Blackberry auszuprobieren, die zuvor nur in der Theorie durchdacht worden waren, erlebt er immer wieder Überraschungen: „Neun von zehn Malen kommen wir mit etwas hervor, das großartig klingt: Auf intellektueller Ebene klingt es wie eine großartige Funktion oder ein großartiger Weg, eine Funktion zu implementieren. Neun von zehn Malen funktioniert es nicht. Wir probieren es aus und niemand findet es gut oder es funktioniert einfach nicht oder es ist sehr schwerfällig.“ Der Unterschied zu einem Managementstil, der durch Risikoaversion geprägt ist, besteht für das Unternehmen in einem einfachen Punkt: Erst die neun gescheiterten Ideen führen zur zehnten, die funktioniert. Für Mike Lazaridis hat das Konsequenzen in Bezug auf die Unternehmensstrukturen: „Der Trick besteht darin: Kannst Du eine Umgebung schaffen, in der es in Ordnung ist, Fehler zu machen, weil es der Weg ist, Neues einzuführen?“ Research in Motion hat eine Kultur geschaffen, in der es nicht nur akzeptiert ist, sondern sogar gefördert wird, 9 von 10 Malen zu scheitern.

Tata Group: Scheitern wird belohnt

Würde es einen Preis für den unkonventionellsten Innovationswettbewerb der Welt geben, die Tata Group hätte gute Chancen, ihn zu gewinnen. 1.700 Innovationsteams aus 65 Tata Unternehmen bewarben sich 2009 um die Preise in den verschiedenen Kategorien, die dazu geschaffen wurden, radikale Innovationen zu generieren. Entsprechend wurden diese Kategorien benannt: Neben der erfolgreichsten Innovation werden besonders zukunftsweisende Ideen prämiert, die vollkommen neu sind. Außerdem vergibt Tata einen Preis in der Kategorie „Dare to try“, was sich mit „Gewagt, es zu versuchen“ am besten übersetzen lässt. In dieser Kategorie wird ein Preis an das wagemutigste Team vergeben, das einen ernsthaften Versuch gestartet hat, eine große Innovation voranzubringen, aber dabei nicht erfolgreich war. „Wir alle wissen, dass die intelligenten Fehler Meilensteine für wegweisende neue Innovationen sind“, schreibt die Jury über diese Kategorie. „Diese Auszeichnung belohnt diesen Geist.“

Apple – „Kunden wissen nicht, was sie kaufen sollen“

In den Neunzigerjahren verbrachte Apple viel Zeit damit, Produktbeiräten zuzuhören oder auf die Suche nach sogenannten „Consumer Insights“ in moderierten Kundengesprächsgruppen (Focus Groups) zu gehen. Das machte das Unternehmen reaktiv. In der Angst, etwas verkehrt zu machen, wurden Kundenwünsche von heute zum Maßstab für Innovationen von morgen gemacht. In unserer Studie sind wir auf interessante Blogs gestoßen, in denen aktive und ehemalige Mitarbeiter die Apple-Kultur diskutieren. „Einer der Kommentare eines Apple-Vizepräsidenten ist wirklich ein Gedanke, der Apple prägt“, schreibt ein ehemaliger leitender Angestellter in seinem Blog. „In einem Meeting sagte er: ‚Kunden wissen nicht, was sie kaufen sollen. Wir müssen ihnen sagen, was sie zu kaufen haben.‘“ Im ersten Moment klingt dieser Gedanke abwegig: Nicht auf Kundenbedürfnisse eingehen? Den Kunden nicht vorher fragen, was er möchte? Erst auf den zweiten Blick macht dieser Gedanke Sinn: Welcher Kunde hätte Ende 2009 in einer Focus Group gesagt, dass das, was er wirklich zum Leben braucht, ein iPad ist? Apple verfolgt die Philosophie des „keine Angst vor dem Scheitern“ konsequent. Denn wer mutig nach vorne prescht, macht zwangsläufig Fehler. So passt es, wenn in einem Apple-Insider-Blog ein HR-Manager mit den Worten zitiert wird: „Apple-Vizepräsidenten haben das Recht, Fehler zu machen und dafür nicht zur Verantwortung gezogen zu werden.“

Die Risiko- und Experimentierkultur der untersuchten Firmen ist kein Selbstzweck. Im Gegenteil. Eine hundertprozentige Zielorientierung, Disziplin und solide, detaillierte Planung gehen mit dem Risiko einher. Eine Experimentier- und Risikokultur zu schaffen, bedeutet nicht, die klassischen Methoden der Risikoanalyse außer Acht zu lassen. Es bedeutet auch nicht, Geld aus dem Fenster zu werfen. Sondern innerhalb klar definierter Grenzen und im Hinblick auf klar definierte Ziele Scheitern zuzulassen. Geht das auch in einem Unternehmen, das vom Aktienmarkt und den Analysten der Banken kritisch beäugt wird? Amazon-Chef Jeff Bezos hat darauf eine Antwort: „Wenn die Mitarbeiter, die Amazon.com betreiben, keine bedeutenden Fehler machen, dann würden wir für unsere Aktionäre keinen guten Job machen. Denn wir würden nicht austesten, wie weit wir gehen können.“

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