Indianer weinen stumm

Emotionen sind derzeit in aller Munde. Überall wird mit ihnen gearbeitet: Werbung, Verkauf, selbst die Politik hat die Emotionen für sich entdeckt. Doch wenn es um unsere eigenen Gefühle geht, sind wir Analphabeten. Aber warum haben wir ein so abivalentes Verhältnis zu unseren Gefühlen?
Patrizia Patz gibt Antworten.

Emotionen sind derzeit in aller Munde. Überall wird mit ihnen gearbeitet: Werbung, Verkauf, selbst die Politik hat die Emotionen für sich entdeckt. Doch wenn es um unsere eigenen Gefühle geht, sind wir Analphabeten.
Es scheint paradox zu sein. Einerseits wird gepredigt, dass Emotionen wichtig sind und Menschen sich durch Emotionen besser überzeugen lassen, als durch rationale Argumente. Andererseits lernen wir nichts über den Umgang mit den eigenen Gefühlen. Emotionale Kompetenz wird von unserer Standard-Ausbildung ignoriert. Wir lernen Lesen, Schreiben und Rechnen, logisch zu denken und Probleme zu lösen. Intelligenz wird belohnt und wertgeschätzt. Aber Gefühle?

Gesellschaftliche Konditionierung in Sachen Gefühle

Unsere emotionale „Ausbildung“ erfolgt allein durch gesellschaftliche Konditionierung. Wir übernehmen in jungen Jahren was sozial als schicklich und angemessen gilt und was wir in unserer Familie beobachten. Wir ziehen unsere Schlüsse aus schmerzlichen Erfahrungen, die wir mit unseren Gefühlen oder den Gefühlen anderer gemacht haben.

Das Buch zum Thema


» Mehr Infos

Dieses unausgesprochene Paradigma lässt sich wie folgt zusammenfassen: Gefühle sind Privatsache. Sie öffentlich zu zeigen, gilt als unprofessionell (außer im Fußballstadion). Gefühle machen uns schwach und manipulierbar. Gefühle sind kindisch, irrational, launisch und nicht vertrauenswürdig. Erwachsen sein heißt, sich und seine Gefühle im Griff zu haben. Diese kollektive Prägung spiegelt sich auch in unserer Sprache wider: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Männer weinen nicht“, „Heulsuse“, „Angsthase“, „Wer schreit hat Unrecht“, „Angst ist ein schlechter Berater“ – um nur einige bekannte Redensarten zu nennen. Das ist die Lektion, die wir über Gefühle gelernt haben.

Gefühls-Taubheit als kollektives Phänomen

Diese Prägung führt dazu, dass wir sehr früh lernen, Gefühle zu unterdrücken. Allerdings verschwinden sie dadurch nicht. Denn Gefühle sind kein Designfehler der Schöpfung, sondern ein wichtiger Bestandteil des Menschseins. Also betäuben wir unsere Gefühle zusätzlich, um zu funktionieren.
Unsere Kultur unterstützt uns dabei tatkräftig mit allerlei „Betäubungsmitteln“. Wir stürzen uns in Arbeit, futtern Gefühle mit Süßkram weg, lassen uns vom Fernseher oder Radio durchgehend beschallen oder lenken uns mit Internet, Computerspielen oder Social Media ab. Manche versuchen auch, mit positivem Denken oder Meditation ihren Gefühlen zu entkommen. Im schlimmsten Falle hilft auch ein Gläschen Alkohol oder eine Zigarette. Unser Umgang mit Gefühlen kann sich auf diese Weise aber nicht weiterentwickeln und bleibt in den Kinderschuhen stecken. Wir verbannen unsere Gefühlswelt ins Unbewusste.

Unbewusstheit macht manipulierbar

Dort liegen sie dann, unsere Gefühle, und gären vor sich hin – unbewusst und dennoch vorhanden und voll wirksam. Und vor allem: voll zugänglich für Manipulationsversuche von außen. Die anfänglich erwähnte Paradoxie ist in Wirklichkeit gar kein Widerspruch. Dass Werbung, Verkauf, Medien und Politik Emotionen wirksam nutzen können, liegt genau darin begründet, dass wir Gefühle unbewusst ausleben. Denn solange wir unbewusst fühlen, sind wir leichtes Opfer für emotionale Manipulation. Auf die richtige Weise angesprochen, motivieren unsere unbewussten Gefühle uns dazu, Produkte zu kaufen, uns einer Meinung anzuschließen oder eine Partei zu wählen. Wir reagieren aus unbewussten Gefühlsprogrammen heraus, ohne eine echte Wahl zu haben. Wie praktisch für die Wirtschaft und die Politik!

Ein neues Paradigma

Das Zauberwort heißt Bewusstheit. Denn wo Bewusstheit herrscht, hat Manipulation keine Chance. Neben der emotionalen Manipulation von außen gibt es noch weitere negative Auswirkungen unserer Unbewusstheit. Unterdrückte Gefühle können sich in körperlichen Symptomen, wie Bluthochdruck, Verdauungsbeschwerden oder nächtlichem Zähneknirschen Ausdruck verleihen. Der unbewusste Umgang mit Gefühlen belastet oft unsere Beziehungen. Aber auch bei psychischen Symptomen, wie Angstattacken, Depressionen oder Burnout spielen unterdrückte Emotionen oft eine Rolle.
Was fehlt, ist eine Ausbildung im Umgang mit Gefühlen. Doch solange wir die Geschichte glauben, dass Gefühle unprofessionell sind, gibt es nur wenig Motivation, um sich mit dem Thema zu befassen. Ausgangspunkt muss also ein neues Paradigma in Bezug auf Gefühle sein. Gefühle sind eine nützliche menschliche Ressource. Wenn wir lernen, sie bewusst zu fühlen und verantwortlich mit ihnen umzugehen, dienen Gefühle uns als Navigationssystem und Kraftquelle. Sie geben uns nützliche Informationen und Handlungsimpulse. Sie versorgen uns mit Motivation und Kraft, Dinge in Bewegung zu bringen und auch andere davon zu begeistern. Gefühle machen uns menschlich, verbinden uns und lassen uns mitfühlen – um nur einige Aspekte zu nennen.

Erwachsene Gefühle

Ausgehend von diesem neuen Paradigma gilt es, die Gefühlswelt aus dem Exil des Unbewussten zu befreien und wieder einen bewussten Zugang zu dieser Ressource zu schaffen. Dazu gehört auch, dass wir uns emotionaler Konditionierungen gewahr werden und dafür sorgen, dass emotionale Verletzungen aus der Vergangenheit, heilen können. Gleichzeitig können wir einen erwachsenen Umgang mit Gefühlen erlernen: Was fühle ich gerade? Welche Information gibt mir dieses Gefühl? Wozu kann ich diese Information und Kraft nutzen? Denn gemäß dem neuen Paradigma bedeutet Erwachsen sein nicht, sich und seine Gefühle im Griff zu haben – im Sinne von „Indianer weinen stumm“. Es bedeutet stattdessen, sich seiner Gefühle bewusst zu sein und sie verantwortlich für das eigene Leben zu nutzen, egal ob im privaten oder im beruflichen Bereich.

Und so nimmst du deine Gefühle wieder wahr:

#1 – Innehalten und Zentrieren

Die emotionale Reaktion auf einen Reiz erfolgt in Sekundenschnelle. Bevor wir uns bewusstwerden, dass wir etwas fühlen, hat unser Verstand schon mehrere Geschichten dazu gestrickt. Hier hilft es, kurz innezuhalten und bewusst deine Aufmerksamkeit weg von den Gedanken hin zum physischen Köper zu lenken. Denn Fühlen passiert im Körper, nicht im Verstand!

#2 – Gefühl einordnen

Dann frage dich selbst: „Was fühle ich gerade und warum?“ Entgegen der verbreiteten Meinung, dass es unendlich viele Gefühle gibt, kannst du die meisten Gefühle auf 4 Grundgefühle zurückführen: Wut, Traurigkeit, Angst und Freude.

#3 – Das Gefühl bewusst fühlen

Du wirst feststellen, dass deine Konditionierung dich dazu bringen will, dich schnell wieder in den Griff zu bekommen und zurück in den Verstand zu gehen. Bleibe stattdessen mit deiner Aufmerksamkeit im Körper, atme weiter und erlaube dem Gefühl da zu sein und sich auszudrücken – eventuell inklusive Zittern, Tränen oder was sich sonst zeigt.

#4 – Beobachten, was passiert

Atme tief ein und aus, während du das Gefühl da sein lässt. Gehe mit deiner Aufmerksamkeit immer wieder zurück in den Körper zu deinem Gefühl. Beobachte, wie es sich verändert, wenn du es eine Zeitlang bewusst gefühlt hast. Nimm wahr, wie es nach einiger Zeit einfach abebbt. Und mache dir dann bewusst: alles ist in Ordnung, es geht dir gut!

Teilen

Dieser Artikel kann nicht kommentiert werden.