Der hat mir nichts zu sagen

Sie haben direkt und ohne Umschweife das ausgesprochen, worum es Ihnen geht und wie sehr Sie davon betroffen sind. Wie machen Sie jetzt aber weiter? Wie sehr lassen wir uns auf unseren Gesprächspartner ein? Bauen wir eine schützende Mauer mit “Der hat mir gar nichts zu sagen” auf? Oder versuchen wir besser mit aufrechtem, klugen Mut eine autonome Position einzunehmen?

Nehmen wir an, Sie haben mutig, aufrecht und klar die Kommunikation begonnen. Sie haben schnell und ohne Umschweife angesprochen, um was es Ihnen geht und wie Sie persönlich von diesem Thema betroffen sind. Wie begegnen Sie nun dem Gegenüber? Wie sehr lassen Sie sich auf sie oder ihn ein? Wie sehr glauben Sie, eine schützende Mauer zwischen sich und dem anderen aufbauen zu müssen? Ganz häufig stoße ich an dieser Stelle im Coaching und Training auf ein eklatantes Missverständnis. Sätze wie »Ist mir doch egal, was der denkt!« oder »Die hat mir gar nichts zu sagen!« haben für mein Verständnis nur wenig mit aufrechtem, klugen Mut zu tun. All diese Sätze und ihre emotionale Energie kommen aus einer Überabgrenzung, die weit von Souveränität und echter Autonomie entfernt ist.

An dieser Stelle möchte ich den Autonomiebegriff aufnehmen, der für das Encourage-Konzept von großer Bedeutung ist. Robert Langlotz, ein Psychiater aus München, hat sich eingehend mit dem Begriff Autonomie auseinandergesetzt und die psychotherapeutische Methode der Autonomiearbeit entwickelt. Der Grundgedanke ist simpel und hilft uns, ein klares Bild für die Encourage-Beziehung zu entwickeln. Jeder Mensch braucht nach Langlotz seinen persönlichen Autonomieraum an innerer und äußerer Freiheit. Sie können sich den Raum als einen Kreis vorstellen, der jedes Individuum umgibt. Wenn Menschen zu sehr mit anderen Menschen verschmolzen sind, verschmelzen auch die beiden Kreise und es gibt keinen eigenen Raum mehr. Man definiert sich dann über den anderen. Man kann es nicht ertragen, wenn es dem anderen schlecht geht. Man fühlt sich für dessen Leben verantwortlich. Mutiges Für-sich-selbst-Einstehen, klares Grenzen-Setzen, die eigenen Gefühle und die des anderen getrennt voneinander wahrzunehmen, ist bei diesen Verschmelzungen nicht mehr möglich.

Robert Langlotz arbeitet bei seiner Autonomiearbeit mit Eltern und Kindern sowie mit Schülern und Lehrern (Langlotz 2015). Auch ich arbeite im Coaching mit diesem Ansatz und helfe Klienten dabei, den eigenen Raum wiederzuentdecken. Oft begegnet mir dabei das Phänomen der Überabgrenzung. Statt ruhig und klar den eigenen Raum zu verteidigen und den Raum der anderen ebenfalls zu respektieren, verfallen die Klienten in eine starke abwertende und manchmal auch trotzige Reaktion. Die Energie wird nicht zur Wahrung des eigenen Autonomieraums genutzt, sondern zur Abwertung des Gegenübers. Das ist nach meinem Verständnis keine Autonomie. Was wir alle lernen können, ist, unseren eigenen Autonomieraum zu bewahren und zu verteidigen und dem Raum des Gegenübers ebenfalls mit Respekt zu begegnen. Auch wenn wir inhaltlich unterschiedlicher Meinung sind, bleibe ich offen und versuche zu verstehen, wie die Realität des anderen sich gestaltet. Ich schaffe es, durch meine persönliche und konkrete Kommunikation, den anderen in meine Realität einzuladen, aber ich bin ebenfalls sowohl in der Lage wie auch neugierig und offen dafür, seine Realität kennenzulernen. Zu dieser Art von Begegnung gehört ein Vielfaches mehr an Mut als zu abwertender Überabgrenzung. Ich riskiere durch diese Art der Offenheit und Neugierde, Neues zu erfahren. Diese Form der Neugierde ist nicht mit dem Grundmuster der Anpassung zu verwechseln. Dass ich offen und interessiert versuche, zu verstehen, wo der andere steht, bedeutet in keinster Weise, dass ich meine Interessen, Wünsche und Bedürfnisse sofort automatisch anpasse und über Bord werfe. Aus einem Gefühl der inneren Stärke und Souveränität bin ich in der Lage, dem anderen gegenüber respektvoll und neugierig zu begegnen und dann klar zu entscheiden, wofür ich mich einsetzen und abgrenzen möchte.

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Tipps für den Umgang mit dem Gegenüber

Sie haben all das, was Ihnen wichtig ist, zum Ausdruck gebracht. Erwarten Sie nun nicht, dass der andere sofort einlenkt und sich Ihrer Wirklichkeit anpasst. Sehr häufig braucht es einige Zeit des Verdauens, um einen guten, gemeinsamen Weg zu finden. Seien Sie stolz und zufrieden, dass Sie den Weg zu mehr Mut eingeschlagen haben. Geben Sie der Entwicklung von Veränderungen beim anderen Zeit.

Bleiben Sie offen und neugierig. Versuchen Sie, ohne Bewertungen seine Sicht der Realität zu verstehen. Vielleicht hilft Ihnen die Vorstellung, ein Forscher zu sein. Das Gegenüber ist das neue, unbekannte Terrain, das es zu ergründen gilt. Menschen spüren, ob wir wirklich bei Ihnen sind oder schon wieder innerlich eine Gegenargumentation vorbereiten. Versuchen Sie all das, was Ihnen wichtig scheint, für den Moment des Zuhörens beiseitezustellen. Vertrauen Sie darauf, dass Sie Ihre Möglichkeit zum Selbstausdruck in einer späteren Phase in aller Klarheit nutzen werden. Sie können lernen, inhaltlich komplett anderer Meinung zu sein, aber emotional zu akzeptieren, wo der andere steht.

Im Fokus unseres Konzeptes steht nicht das Recht-Haben, sondern die gemeinsame Suche nach Lösungen und Kompromissen. In der Regel entsteht ein gemeinsamer Lösungsraum, wenn es gelungen ist, die eigenen Bedürfnisse sehr klar anzusprechen, und wenn das Gegenüber gleichzeitig den Eindruck hat, Raum zu bekommen. Sehr oft ist das nicht im ersten Gespräch und der ersten Auseinandersetzung möglich. Manchmal ist es hilfreich und eine Form der Wertschätzung, dem anderen zunächst Raum zum Verdauen zu lassen und zu einem späteren Zeitpunkt das Gespräch wieder aufzunehmen.

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