Wir Menschen lassen die Dinge gerne Revue passieren, oft ganz automatisch und gar nicht bewusst. Es liegt einfach in unserer Logik, aus unseren Erfahrungen Schlüsse zu ziehen und ihnen einen Sinn zu geben. Im Rückblick fassen wir das Erlebte zusammen, formen Geschichten daraus, resümieren, was gut oder schlecht gelaufen ist, was wir wieder so oder ganz anders machen würden. Wir wollen aus Erfahrungen lernen und immer lautet die Frage: Welche Einsichten gewinnen wir?
Diese Frage stellen wir uns nicht nur im privaten Leben, »Lessons Learned« ist gerade in der Teamarbeit ein unverzichtbarer Bestandteil jedes Projektverlaufs. Immer wieder blicken wir zurück, um »dort« (vorhin, gestern, letzte Woche …) wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Denn sowohl positive als auch negative Erkenntnisse können wesentlich zum zukünftigen Erfolg beitragen. Sie liefern Anhaltspunkte, um künftig Fehler zu vermeiden und Risiken zu verringern. Im familiären und gesellschaftlichen Zusammenleben, im gemeinsamen Gestalten und Handeln ist es von großem Nutzen, immer wieder zurückzublicken und Vergangenes zu reflektieren.
Welche Lehren können wir ziehen aus dem, was wir getan haben?
Welche Schlussfolgerungen ergeben sich für uns aus den Konsequenzen unseres Handelns?
Seit du dich als Kind im Spiegel als »Ich« erkannt hast, seit du andere Personen als getrennt von dir wahrgenommen hast und seit du eigenständig denken kannst, glaubst du dir deine Bedürfnisgeschichten und dass du dies und jenes brauchst. Manches brauchst du unmittelbar und körperlich, wie Luft, Wasser, Schlaf oder Nahrung, anderes brauchst du für dein geistiges und seelisches Wohlergehen, wie Liebe, Geborgenheit, Wertschätzung oder Sicherheit. Selbstreflexiv überprüfst du deine Handlungen auf ihre Wirksamkeit in Bezug auf die Befriedigung deiner Bedürfnisse. Was auch sonst? Du schaust zurück auf dein Verhalten und prüfst es auf seine Effektivität hin: »Das habe ich toll hinbekommen, das mache ich beim nächsten Mal genauso!« Oder: »Das war ein totaler Fehlschlag, ich habe alles verkehrt gemacht, das darf mir nicht noch einmal passieren.« Oder: »Ich werde in Zukunft darauf achten, erst gar nicht in so eine Lage zu kommen.« Und so weiter.
Und das ist gut so.
Erkenntnisse aus dem Gestern in unsere Planungen für das Morgen miteinzubeziehen, gehört per se zur Basis unserer Weiterentwicklung als Homo sapiens. Es hat uns auf unserem evolutionären Weg das Überleben gesichert, vor allem als Gemeinschaft. Lektionen aus bisherigen Handlungen zu ziehen, um gewappnet zu sein für die Zukunft, ist uns sozusagen strategisch in Fleisch und Blut übergegangen. Wir reflektieren über unsere Glücksgriffe und Fehlgriffe auf einer abstrahierten Denkebene und entwerfen daraus die passenden Schablonen für unser zukünftiges Handeln. Das Prinzip »Lessons Learned« hat sich offenbar als derart nützlich für die Befriedigung unserer Bedürfnisse erwiesen, dass es längst zu einem allgemeinen Paradigma unserer Gesellschaft geworden ist, und zwar in sämtlichen Lebensbereichen. Wir würden es niemals infrage stellen.
Das ist absolut perfekt so.
Es ist perfekt, zurückzuschauen und aus Fehlern zu lernen. Ohne dieses Lernen wäre keinerlei Fortschritt möglich. Wie auch immer du dein Verhalten konkret beurteilst, dein inneres »Lessons Learned« ist aus deiner Gedankenwolke, deinem 3-D-Lebenskino, nicht wegzudenken.
Wunderbar.
Das Prinzip des In-der-Schwebe-Haltens – mit dem Fokus darauf, dass jeder Gedanke eine Geschichte ist, von der du glaubst, dass sie wahr ist – schließt natürlich auch das Lernen aus Fehlern ein. Du lenkst deine Aufmerksamkeit konkret darauf, dass du glaubst, aus deinen Fehlern lernen zu können, zu sollen oder zu müssen. Dass du glaubst, es sei wichtig für dich, deine Erfahrungen zu machen und deine Vergangenheit stets genau zu analysieren. Dass du glaubst, daraus wertvolle Hinweise für deine Zukunft zu generieren.
Wenn du all das regelmäßig in der Schwebe hältst, wird das einen überraschenden Effekt haben. Der fundamentale Paradigmenwechsel setzt sich hier weiter fort, wenn du bemerkst:
Genauso wenig, wie du direkte Aufmerksamkeit auf das Lösen von Problemen legen musst, musst du dich auch gar nicht auf das Lernen aus Erfahrungen konzentrieren.
Vielleicht ist das für dich ein ungewohnter Ansatz, weil du dieses Lernprinzip in einer ausgeprägten Leistungskultur über Jahre tief verinnerlicht hast und längst ganz automatisch anwendest. Du führst dir vielleicht erstmalig einen der stärksten unhinterfragten Glaubenssätze vor Augen, nämlich dass du immer aus allem, was geschieht, deine Lehren ziehen solltest.
Nach dem Sinn und Nutzen dessen zu fragen, was uns im Leben widerfährt, gehört zu den stichhaltigsten Überzeugungen unseres geistigen Daseins. Wenn wir stattdessen unsere Konzentration darauf richten, dass wir uns im Moment diese Überzeugung glauben und sie in der Schwebe halten, erfahren wir die wahre Kraft der Schwebedialoge direkt am eigenen Leib, rein biologisch: Unser Gehirn, unser Nervengewebe, unser ganzer Körper, unser Geist …, all das bildet zusammen eine hochkomplexe Feedbackmaschine. Das Lernen aus Erfahrungen ist ein essenzieller Rückkopplungsaspekt unseres Nervensystems. Etwa hundert Milliarden Nervenzellen sind über eine Trillion Synapsen miteinander verbunden, wobei jede einzelne Nervenzelle mit bis zu dreißigtausend anderen Nervenzellen vernetzt sein kann. Und dieses gigantische Netzwerk formiert sich auch noch ständig neu, das heißt, Synapsen werden abgebaut und an anderer Stelle wieder aufgebaut, je nachdem, wie sich die Anforderungen an das System gerade entwickeln.
»Lessons Learned« ist ein intrinsischer Teil unseres natürlichen Biofeedbacksystems und nicht erst als modernes Konzept des Projektmanagements entstanden. Als methodisches Instrument ist es zwar in unserer beruflichen, institutionellen und sozialen Zusammenarbeit unerlässlich und benötigt einen entsprechenden Fokus, aber für uns persönlich ist es ein derart inhärenter und unabkömmlicher Selbstläufer, dass wir im Grunde vollständig darauf verzichten können, ihm besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Methode der Schwebedialoge basiert auf einer unkonventionellen Aufmerksamkeitsökonomie, die bei langfristiger Anwendung nicht nur zu einem nachhaltigen Perspektivenwechsel führt, sondern ein völlig neues Paradigma beschreibt: Deine Wahrnehmung konzentriert sich immer weniger (wie gewohnt) auf den Inhalt deiner Gedanken, Gefühle, Überzeugungen, Aufgabenstellungen und so weiter und dafür immer mehr darauf, zu bemerken, was du gerade tust, nämlich diesen Inhalt, welchen auch immer, zu glauben. Der Inhalt – beispielsweise, dass das Leben per se eine ewige Lernaufgabe sein muss – spielt nicht mehr die Hauptrolle. Dass du daran glaubst, ist der eigentliche große Auftritt. Diese kompromisslose Verschiebung deines Augenmerks kannst du dir deshalb leisten, weil du dich darauf verlassen kannst, sowieso immer im Interesse deiner Bedürfnisse zu handeln.
Perfekt.
Wir haben hier das Prinzip des Lernens aus Erfahrung exemplarisch herausgepickt, weil es wesentlich zu unserem selbst gemachten Stress beiträgt.
Es würde sich natürlich auch noch vieles andere anbieten, um eine Verlagerung der Aufmerksamkeit auszuprobieren, zum Beispiel die Illusion von Zeitpunkten, von Stabilität und Kontinuität. Oder die Idee, auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Oder der Grundsatz, klare Ziele formulieren zu müssen. Der Glaube, dass ohne Plan kein Erfolg eintritt.
Ohne Fleiß kein Preis. Probleme sind zum Lösen da …
Da dies alles auch nur weitere Prinzipien, Glaubenssätze, Ideen oder Vorstellungen sind, betrachten wir sie als Modellierungen, sozusagen als Genres unserer Erzählkunst. Bei den Schwebedialogen unterscheiden wir ohnehin nicht zwischen solchen und solchen Geschichten. Du kannst also das Verschieben deines Fokus weg vom Inhalt und hin zum Glauben analog auf alle deine Geschichten gleichermaßen anwenden. Im Sinne einer bewussten Aufmerksamkeitsökonomie kannst du jeden Stress, den du dir selbst machst, entscheidend und dauerhaft reduzieren.
Zurück zum Lernen aus Erfahrungen: Je mehr, je öfter, je länger du das In-der-Schwebe-Halten praktizierst, desto besser wirst du die erstaunliche und entspannende Qualität des Vergessens kennenlernen. Wenn Gedanken, mit denen du dich schon »gewohnheitsmäßig« selbst stresst und fertigmachst, in den Hintergrund treten können oder sogar ganz in Vergessenheit geraten.
Wenn du deine Aufmerksamkeit beharrlich weg vom Inhalt deiner stressigen Gedanken und Gefühle hin zu deinem unbedingten Glauben an sie lenkst, dann bedeutet das auf neuronaler Ebene, dass die Nervenverbindungen, die diese Gedanken und Gefühle repräsentieren, schwächer werden, da sie weniger häufig aktiviert werden. Auf lange Sicht kann diese Veränderung in der neuralen Aktivität dazu beitragen, dass die stressenden Gedanken seltener auftreten und möglicherweise gänzlich aus deinem bewussten Denken verschwinden. Der Grund liegt darin, dass das Gehirn eine Form der »Plastizität« besitzt. Es passt sich an die veränderte Nutzung seiner Ressourcen an und priorisiert Gedankenmuster, die regelmäßig genutzt werden, während weniger genutzte Verbindungen schwächer werden.
Somit eröffnet die gezielte Verlagerung deiner Aufmerksamkeit die biochemische Möglichkeit, deine Gedankenwelt umzustrukturieren und dich neuen Erfahrungen gegenüber aufgeschlossener zu machen. Das Ergebnis: Du wirst unweigerlich offener für Neues!
In-der-Schwebe-Halten bringt das Vergessen als gute Qualität in dein Leben. Nichts, was du glaubst, kann zu einem lästigen Dogma werden, wenn du weißt, dass du selbst es glaubst und dadurch zu einem Dogma machst.
Und jetzt noch ein abschließendes Beispiel:
Stell dir vor, du bist nach einer langen Arbeitswoche total erschöpft und möchtest eigentlich nur noch deine Ruhe haben. Trotzdem kommt dir der Gedanke: »Ich sollte wirklich mal wieder Sport treiben!«
Wie gehst du damit um? Denkst du vielleicht: »Ich muss aufhören, mich so unter Druck zu setzen. Das ist nicht gesund.« Oder entscheidest du: »Ich ignoriere diesen Gedanken jetzt einfach, damit ich entspannter bin.« Vielleicht aber akzeptierst du den Gedanken auch einfach: »Okay, ich nehme diesen Gedanken an, wie er ist.«
Und es gibt noch viele andere Möglichkeiten, wie du reagieren könntest. Jede dieser Reaktionen ist natürlich wieder eine ganz eigene Geschichte für sich.
Also nochmal: Es gibt nichts zu verbessern! Keine Gegengeschichte. Keine Relativierung. Kein Loslassen. Kein Einlassen. Kein Annehmen. Wenn du einen Gedanken in der Schwebe hältst, drehst du ihn nicht um, nimmst ihn nicht an, lässt ihn nicht los, findest ihn nicht blöd, bekämpfst ihn nicht und machst ihn auch nicht klein oder groß.
Du bemerkst nur, dass du das gerade denkst, fertig. Und so weiter. Und so weiter. Und so weiter.

Britta Albegger vereint künstlerische Kreativität mit syste-mischem Denken. Nach ihrem Abschluss an der Universi-tät der bildenden Künste in Wien und einer Ausbildung für systemische Organisationsentwicklung arbeitete sie in in-ternationalen Innovations- und Veränderungsprojekten. Ihrer Begeisterung für das Aufbrechen eingefahrener Denkmuster entsprang schließlich die Idee für den Schwebedialog, dem sie sich seither voll und ganz widmet. (Foto: Manfred Bibiza)
Geza Horvats unstillbare Neugier und Leidenschaft, den Dingen auf den Grund zu gehen, führen ihn in die unter-schiedlichsten Bereiche: Vom Studium der Wirtschaftsin-formatik, der Arbeit als Regisseur bei Film und Fernsehen bis zu einer künstlerischen NPO, in der er als IT-Experte tätig ist. Sein Lebenswerk ist der Schwebedialog, der es Menschen ermöglicht, das Wesen des Denkens und Kommunizierens tiefgehend zu ergründen. (Foto: Manfred Bibiza)