Je komplexer die Strukturen der Zusammenarbeit in einem Unternehmen sind, mit umso mehr Anforderungen werden dessen Führungskräfte konfrontiert. Und umso schneller verdichtet sich bei ihnen das Gefühl „Alle zerren an mir“. Ein Fallbeispiel, wie Führungskräfte diesen Druck analysieren und reduzieren können.
„Alle zerren an mir.“ Das sagte kürzlich der Bereichsleiter eines mittelständischen Unternehmens – nennen wir ihn Hans Huber – während einer Coachingsitzung zu mir. „Wer sind alle?“, fragte ich ihn und protokollierte seine Aussage in einer Zeichnung. Anschließend übergab ich sie ihm mit den Worten „Das sind Ihre Auftraggeber“.
„So viele. Das war mir nicht bewusst“, sagte Huber daraufhin nachdenklich. „Aber es ist schon so. Es werden immer mehr. Deshalb fällt es mir immer schwerer, meine persönliche Linie zu bewahren.“
Auf dem Schreibtisch türmen sich die Aufgaben
Dann schilderte er mir, welche Aufgaben fast täglich auf seinem Schreibtisch landen. Mitarbeiter erwarten eine Entscheidung. Externe Partner und Dienstleister wollen wissen, wie es weiter geht. Der Vorstand und die Anteilseigner der Firma wünschen einen Investitionsplan. Führungskräfte bitten ihn, einen Konflikt zu klären. Die Bank lädt zu einem Gespräch über den Geschäftsverlauf ein. Schlüsselkunden fordern „bessere“ Konditionen. Die benachbarte Schule wünscht Praktikumsplätze für ihre Schüler. Die IHK möchte ihn als Teilnehmer an einer Podiumsdiskussion zum Thema „Führung im Kontext von KI“ gewinnen.
Der eigene Anspruch bleibt auf der Strecke
Und irgendwo zwischen all diesen Aufgaben und Anforderungen, die es zu erfüllen gilt, liegt ein Blatt mit persönlichen Notizen von Huber. Diese machte sich der Bereichsleiter im letzten Urlaub, als er an einem Abend reflektierte, mit welchen Ansprüchen er ins Berufsleben gestartet ist.
Huber wollte Erfolg haben. Dabei wollte er jedoch „sich treu“ und „menschlich“ bleiben. Und was wurde daraus? Huber ist erfolgreich – zweifellos! Doch zu welchem Preis? Im Arbeitsalltag zeigt er kaum Emotionen. Taffe Gespräche gelten als seine Stärke. Für persönliche Worte bleibt kaum Zeit. Und nicht selten muss Huber auch Mitarbeitern kündigen und mit ihnen über ihre Abfindung feilschen – professionell und routiniert, doch zuweilen bis an die Grenze der Fairness.
Huber begreift dies als Teil seines Jobs. Trotzdem fühlt er sich oft nicht wohl dabei, denn das Scheitern der Mitarbeiter ist häufig nicht nur ihr Fehler. Er hätte sich mehr – auch im Homeoffice – um sie kümmern müssen; er hätte ihnen häufiger ein Feedback geben und zum Teil früher intervenieren sollen. Doch woher die Zeit nehmen?
Die persönliche Vision
Im Urlaub schrieb Huber auch auf, welche Ziele und Werte für ihn beim Berufsstart wichtig waren und heute noch sind.
Das half ihm, sich nach der Auszeit mit neuer Zuversicht in die Arbeit zu stürzen. Und in der ersten vier Tagen hatte er auch das befriedigende Gefühl, endlich wieder einen roten Faden für sein Handeln zu haben.
Doch am fünften Tag, kurz vor dem Wochenende musste er der jungen, ehrgeizigen Mitarbeiterin Carla Martins das Ende ihres Projekts mitteilen. Nicht aus Willkür, sondern weil die Umsätze und Erträge überraschend sanken und deshalb die Finanzlage des Betriebs keinen Spielraum für größere Investitionen mehr ließ. Dabei hatte er erst vor drei Monaten Frau Martins in mühsamer Kleinarbeit die Bedeutung des Projekts erläutert, woraufhin diese sich begeistert auf die Aufgabe stürzte – auch weil sie in ihr eine Entwicklungsperspektive für sich sah. Und nun das Aus. Recht hilflos stand Herr Huber Frau Martins gegenüber, die die Entscheidung nicht verstand oder nicht verstehen wollte – auch weil ihr „Chef“ ihr keine neue Entwicklungsperspektive aufzeigen konnte. „Sie haben doch gesagt, wie wichtig das Projekt sei. Sie haben mir doch signalisiert, wenn….“ Aussagen, die Huber nur bejahen konnte.
Auf diesen Tag folgten weitere „fünfte Tage“ und bei Herrn Huber verdichtete sich erneut das Gefühl:
- „Alle zerren an mir!“
- „Ich habe den roten Faden verloren.“
- „Ich re-agiere nur noch auf äußere Zwänge.“
Dabei hatte er erst vor wenigen Wochen im Urlaub seine Vision zu Papier gebracht.
Den „Teufelskreislauf“ entfliehen
Entsprechend desillusioniert blickte Herr Huber nun auf meine Skizze seiner Auftraggeber. Und dann sagte er: „Okay, die erwarten alle etwas von mir. Soweit die Analyse, doch was nun?“ Ich bat ihn, auf einem Formblatt neben seinen Auftraggebern zu notieren, was diese von ihm fordern bzw. wünschen.
Anschließend fragte ich ihn, wie er normalerweise mit solchen Forderungen umgeht. Seine Antwort: „Ich analysiere, wer ist der Auftragsgeber? Wie wichtig ist die Beziehung zu ihm für mich? Was tut er für mich? Was muss/sollte ich für ihn tun? Und dann ….“ Ich nickte: „Okay, dann haben Sie ja einen Maßstab, um die Frage in der dritten Spalte zu beantworten: „Was bin ich bereit zu tun?“
Das permanente „Müssen“ hinterfragen
Das leuchtete Huber ein. Doch schnell kam er an den Punkt: „Aber wenn die Geldgeber …, dann muss ich doch ….“ An diesem Punkt blieb er hängen, denn er musste auch „Wenn die Kollegen…“, „Wenn die Kunden…“ usw.. Nur bei seiner Familie musste er nicht – die konnte warten.
Es dauerte einige Zeit, Herrn Huber durch Fragen zur neuen Sicht zu führen: „Ich muss nicht (zumal ich finanziell schon weitgehend abgesichert bin). Es ist stets meine Entscheidung, ob ich …“ (siehe Grafik 4).
Daraufhin begann Huber, die Forderungen in einem neuen Licht zu sehen. Er ordnete und priorisierte sie neu und formulierte für sich Regeln, wie er künftig mit unvereinbaren Forderungen umgehen wolle.
Der eigene Anspruch
Wie aber sollte Herr Huber mit dem Auftraggeber „eigener Anspruch“ umgehen? „Der kann ja anders als die Geldgeber oder Kunden mein Verhalten nicht sanktionieren.“ „Wirklich?“, fragte ich nach. „Wie fühlen Sie sich, wenn Sie gegenüber einem Mitarbeiter oder externen Partner Ihre ganze Routine und Macht ausspielen und an die Grenze der Fairness gehen?“ Huber wurde nachdenklich: „Sehr bescheiden bzw. mies, zumindest als Mensch.“ Der eigene Anspruch an sich als Mensch wirkt also auf Huber wie ein Auftraggeber, nur auf einer anderen Ebene. Doch leider kennen wir ihn meist nicht genau.
Also bat ich Herrn Huber, sich seinen eigenen Anspruch als „inneren Auftraggeber“ bildhaft vorzustellen. Er nannte ihn „mein Werte-Anwalt“ und analysierte, welche Forderungen dieser an ihn stellt, bevor er schließlich für sich nüchtern klärte, inwieweit er dessen Forderungen künftig entsprechen wolle.
Nachdem Huber dies geklärt hatte, wurde er ruhiger. Sein innerer Druck ließ nach, denn er hatte wieder einen roten Faden. Daraufhin formulierte Huber für sich fünf Schritte, wie er künftig, wenn der Druck steigt, zunächst analysieren wolle, welchen Forderungen er entsprechen möchte und welchen nicht, statt nur zu reagieren (Grafik 5). Danach fühlte er sich für den (Führungs-)Alltag wieder gewappnet.
Die Einstellung und das Verhalten nachhaltig ändern
Trotzdem entschied Herr Huber, sich in den kommenden Monaten weiterhin in regelmäßigen Abständen coachen zu lassen, um im Berufsalltag einen „externen Sparringpartner mit neutralem Blick“ zu haben. Denn aus Erfahrung wusste er: Ansonsten ist die Gefahr groß, dass ich in Stresssituationen wieder in meine alten, über Jahre antrainieren Verhaltensmuster zurückverfalle und die von mir angestrebten Einstellungs- und Verhaltensänderungen nicht nachhaltig sind. Das gab ihm das gewünschte Gefühl der Sicherheit.
Nikola Doll arbeitet als Führungskräfte-Trainerin und -Beraterin mit ihrem Mann Klaus Doll für die Doll Organisationsberatung (www.doll-beratung.de), Neustadt an der Weinstraße. Außerdem unterstützt und begleitet die Diplom-Soziologin und -Sozialpädagogin mit langjähriger Erfahrung in der betrieblichen Weiterbildung und Personalentwicklung beruflich stark engagierte Personen als Coach bei ihrer persönlichen Entwicklung