Machen Sie den Regel-TÜV

Wahrscheinlich haben Sie als Führungskraft selbst bereits die Erfahrung gemacht: Sie erlassen Regeln, beschreiben haargenau, wie sich ein Mitarbeiter in welcher Situation zu verhalten hat und was er dort genau tun soll. Und dann ereignen sich Dinge, die irgendwie anders verlaufen als vorgesehen, oder aber Mitarbeiter interpretieren die Regeln anders, als Sie sie interpretieren. Was folgt ist eine Spirale des Regelungswahns. Sie erlassen Regeln darüber, wie die Regeln auszulegen sind, verzweifeln daran, dass die Regeln zur Auslegung der Regeln wiederum verschieden interpretiert werden, woraufhin Sie Anweisungen zur Auslegung der Auslegungsvorschriften von Regeln erlassen in der Hoffnung, dass es jetzt doch schließlich jeder verstanden haben müsste. (Falls Sie das zufällig an das deutsche Steuersystem erinnert, ist das kein Zufall. Das deutsche Steuersystem ist das beste Beispiel für die Wirkungslosigkeit zu komplexer Regelsysteme.) Wahrscheinlich haben Sie auch diese Situation schon einmal erlebt: Durch ein möglichst komplexes Regelwerk versuchen Sie, Ziele zu erreichen. Um am Ende festzustellen: Die Regeln wurden eingehalten, die Ziele verfehlt. Woran liegt das? … Jens Uwe Meyer zeigt, wie Sie der Spirale des Reglungswahns entkommen, den Autopiloten aus- und das Gehirn einschalten!

Schon Albert Einstein beklagte: „Perfektion der Mittel und Konfusion der Ziele kennzeichnen meiner Ansicht nach unsere Zeit.“ Die meisten Unternehmen sind methoden- und prozessgetrieben. In jedem Managementmeeting lösen die Worte „strukturierte Herangehensweise“ bei den Beteiligten ein Leuchten in den Augen aus. Wenn jemand sagt: „Das lässt sich regeln“, wird bedächtig genickt.

Wo Regeln guttun – und wo nicht

Nun können Sie natürlich sagen: „Das ist ja auch die Kreativbranche. Woanders funktioniert so etwas nicht.“ Und eingeschränkt haben Sie Recht. Wenn Sie zu McDonald’s gehen und einen Cheeseburger bestellen, möchten Sie nicht, dass der Koch seiner Kreativität freien Lauf lässt. Ob in Gera, Gelsenkirchen oder Griechenland, der Burger soll immer gleich schmecken. Wenn der Abfluss Ihrer Waschmaschine zu Hause ein Leck hat, möchten Sie keinen kreativen Handwerker haben. Auf Sätze wie „Ich würde heute gern mal ein neues Material ausprobieren“, „Soll ich Ihnen ein schickeres Rohr holen, das dauert aber noch drei Tage“ oder „Wieso das Rohr gleich auswechseln? Wir können doch auch mit ihm reden“ würden Sie wahrscheinlich eher aggressiv reagieren. Zu Recht. Und auch der kreative Zahnarzt, der Ihnen – nachdem er das Loch seines Lebens in Ihrem Zahn hinterlassen hat – sagt: „Entschuldigen Sie bitte, ich wollte mal mit einem neuen Bohrer experimentieren“, würde Ihnen wahrscheinlich wenig Freude bereiten. In all diesen Bereichen ist es gut, wenn klare Regeln gelten. In anderen Dingen jedoch ist es hinderlich. Im Verkauf beispielsweise.

Es ist amüsant zu beobachten, wenn Verkäufer die drei Grundregeln aus dem Seminar „Erfolgreicher verkaufen“ herunterrattern:

  • Erzähle, dass das Angebot besonders exklusiv ist und versuche deinen Kunden davon zu überzeugen, dass es eine Ehre ist, dass gerade er angerufen wird.
  • Setze den Kunden unter Zeitdruck, indem du vorgibst, das Angebot sei nicht mehr lange vorrätig.
  • Erzähle ständig von zufriedenen Kunden mit wohlklingenden Namen und wiederhole diese Namen möglichst häufig.

Genau mit diesen legendären drei Verkäufertricks hat ein Kongressveranstalter versucht, unser Unternehmen zu einem Sponsoring zu überreden. „Herr Meyer, das ist eine ganz exklusive Veranstaltung, auf der nur wenige ausgewählte Sponsoren teilnehmen dürfen. Wir haben Sie dazu ausgewählt. Es ist – das muss ich Ihnen allerdings sagen – nur noch ein einziger Platz zur Verfügung. Und ich sage Ihnen, Unternehmen wie X und Y sind bereits mehrfach dabei, weil sie uns immer wieder sagen, wie begeistert sie sind.“ Der Mann war hartnäckig. Er rief eine Woche lang fast jeden Tag an. Am fünften Tag sagte ich ihm: „Wissen Sie, was nicht zusammenpasst? Sie versuchen, mir eine Veranstaltung als hochwertig zu verkaufen und bedienen sich der gleichen Tricks wie ein Gebrauchtwagenverkäufer: ‚Das Auto ist ganz exklusiv nur für Sie da, ich habe auch nur noch ein einziges, aber dafür gibt es schon fünf andere Interessenten. Und namhafte andere Kunden aus Ihrer Stadt haben unsere Autos gerne immer wieder gekauft’.“

Was glauben Sie, hat mir der Verkäufer geantwortet? In seinen Regeln und Verhaltensvorschriften stand leider nicht drin, dass ihm der Kunde die frisch erworbenen Kenntnisse aus dem Verkaufsseminar ankreiden könnte. Also fuhr er fort: „Herr Meyer, das ist wirklich eine ganz exklusive Veranstaltung. Und nur für Sie habe ich den letzten Platz reserviert. Das hat mich unglaubliche Überzeugungskraft gegenüber meinem Chef gekostet. Und der Herr X und der Herr Y von der Firma Z und ZZ sind seit Jahren unsere glücklichen Stammkunden und sagen Ihnen, das werden Sie nicht bereuen.“

Machen Sie den Regel-TÜV

Zu wenige Regeln führen Ihr Unternehmen ins Chaos, zu viele ersticken die Kreativität Ihrer Mitarbeiter. Schlimmer noch: Wenn Sie Ihre Mitarbeiter zu dressierten Schimpansen machen, die ihre Gehirne auf Autopilot stellen, vergessen sie vor lauter Regeln das Ziel. Sie setzen Sonnenschein-Jingles ein, obwohl es regnet, weil sie das Ziel nicht verstanden haben: Sommergefühl zu transportieren. Sie weichen nicht links und nicht rechts von ihren Verkaufsregeln ab. Sie machen alles richtig und vertreiben dabei neue Kunden. Sie gefährden sogar die Sicherheit von Flugzeugen, weil sie Regeln befolgen, statt Ziele zu erkennen: Sprengstoff aus dem Flugzeug fernzuhalten.

Kreative Mitdenker oder dressierte Schimpansen – wie eng ist das Korsett für Ihre Mitarbeiter? Ersticken Regeln die Kreativität Ihrer Mitarbeiter oder sind sie wirklich notwendig? Machen Sie den Regel-TÜV. Überprüfen Sie alle Regeln und fragen Sie sich: „Welches Ziel wird damit verfolgt?“

  • Ihre Mitarbeiter haben die Anweisung, jeden Neuankömmling nach seiner Anreise zu befragen? Was steckt dahinter? Welches Ziel wollen Sie damit verfolgen? Der Neuankömmling soll sich bei Ihnen besonders willkommen fühlen? Nun, spätestens wenn er die gleiche Frage fünf Mal gehört hat, wird er sie als Floskel begreifen.
  • Ihre Vertriebsmitarbeiter sollen jeden Kunden alle drei Monate einmal kontaktieren? Warum? Was ist das Ziel dieser Maßnahme? Vielleicht sollen sich Kunden von Ihnen besonders gut betreut fühlen. Wer aber sagt Ihnen, dass sich Kunden von Ihnen nicht besonders genervt fühlen?
  • Ein Mitarbeiter aus dem Marketing möchte eine neue Kampagne testen. Die Marktforschungstools und die Gesellschaft, mit der er arbeiten soll, sind genau vorgegeben. Die Arbeitsweisen und Abfragemechanismen sind genauso geregelt wie die Zielgruppenauswahl und die Testmethoden. Welcher Anreiz wird hier gesetzt? Regeln einzuhalten oder dafür zu sorgen, dass das Ergebnis wirklich das bestmögliche ist?

Regeln ergeben häufig weniger Sinn, als Sie es zunächst vermuten. Bei meiner Arbeit mit einem großen deutschen Konzern sagte mir einer der Innovationsbeauftragten: „Natürlich wissen wir, dass wir in zwei Jahren mit dieser Idee auf dem Markt keine Chance mehr haben. Aber wir entwickeln sie trotzdem weiter, denn die Regeln besagen, dass unser Innovationsprozess so lange dauert.“ Das führt zu einer absurden Situation: In dem speziellen Bereich war eine gesamte Abteilung damit beschäftigt, Regeln einzuhalten – wohl wissend, dass das Produkt auf dem Markt später chancenlos sein würde, weil es ein bis zwei Jahre zu spät kommen würde.

Was ist das Ziel dieses Prozesses? Was ist das Ziel einer jeden einzelnen Regel in diesem Prozess? Hinterfragen Sie es und beginnen Sie dort, wo es sinnvoll erscheint, Regeln durch Ziele zu ersetzen. Lassen Sie Ihren Mitarbeitern den Freiraum bei der Auswahl der Maßnahmen. Improvisieren Sie. Ja, Sie haben richtig gehört: Improvisieren Sie. Improvisation ist häufig verpönt, doch genauer betrachtet ist Improvisation eine hohe Kunst.

Teilen

Dieser Artikel kann nicht kommentiert werden.