Die Tyrannei des Positiven

Bleib positiv“ klingt harmlos, fast zärtlich. In Wahrheit ist es die höfliche Variante von: „Stell dich nicht so an.“ Die Tyrannei des Positiven beginnt genau dort, wo Stimmung wichtiger wird als Realität.

In Unternehmen heißt das: Risiken werden nicht diskutiert, sie werden „reframed“. Überlastung wird nicht reduziert, sie wird als „Herausforderung“ verkauft. Angst heißt dann „Wachstumschance“, Erschöpfung „temporäre Phase“, strukturelle Zumutung „Ziel“.

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Psychologisch ist das zunächst eine Entwertung der Wahrnehmung. Wer chronisch müde, genervt oder besorgt ist, hat keinen „falschen Fokus“, sondern ein nervöses System, das mit den realen Anforderungen nicht mehr synchron läuft. In einer gesunden inneren Ökonomie wäre das ein Warnsignal. In der Logik des Positiven wird es zum Defekt erklärt. Betroffene lernen, sich selbst zu misstrauen: Nicht die Situation ist das Problem, sondern die eigene „Haltung“. So entsteht eine doppelte Verzerrung.

Erstens: Führungskräfte bekommen nur noch gefilterte Informationen. Niemand möchte derjenige sein, der „negative Energie“ in den Raum bringt. Also werden Risiken weichgespült, Konflikte privat verhandelt, Zweifel ironisch verpackt.

Zweitens: Die Menschen selbst werden innerlich unlesbar. Wer auf jeder Ebene lernt, seine Affekte zu glätten, verliert den Zugriff auf das eigene Frühwarnsystem. Man funktioniert weiter – und merkt immer später, dass etwas nicht mehr zu tragen ist.

Die Tyrannei des Positiven ist deshalb kein psychologisches, sondern ein machtpolitisches Problem. Sie schützt nicht die Psyche, sondern das System. Sie sichert die Illusion der Steuerbarkeit, während im Hintergrund die Affektverschuldung steigt: unausgesprochener Ärger, unadressierte Kränkungen, nicht betrauerte Verluste. Irgendwann entladen sich diese Schulden – als Burn-out, als zynische Distanz, als plötzliche Kündigung „aus heiterem Himmel“.

Die eigentliche Herausforderung besteht darin, diesen Mechanismus umzudrehen: Wer führen will, muss das Negative wieder rehabilitieren. Nicht als Stimmung, sondern als Datenquelle.
Ein Satz wie „Ich habe Angst vor diesem Projekt“ ist kein Stimmungsproblem, sondern eine Information über Ressourcen, Risiken und Rollenunklarheit.
„Ich bin wütend“ ist kein Affront, sondern ein Hinweis auf verletzte Grenzen. „Ich bin erschöpft“ ist kein Makel, sondern eine Bilanz.

Solange Organisationen Positivität als Norm durchsetzen, werden sie genau das verlieren, was sie gleichzeitig beschwören: Verantwortung, Klarheit, Erwachsensein. Reife beginnt dort, wo jemand im Meeting den Satz sagt, der jede PowerPoint sprengt: „Wenn wir ehrlich sind, haben hier gerade sehr viele Menschen sehr wenig Lust auf das, was wir beschließen.“ In diesem Moment bricht die Tyrannei des Positiven. Und zum ersten Mal wird Realität wieder verhandelbar.

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