Die bewusste Aufmerksamkeitssteuerung ist Ausdruck einer essenziellen Grundhaltung, die hier bestätigt werden muss. Es geht im Wesentlichen um die Frage, ob wir Menschen in der Regel Opfer der Umstände sind oder Gestalter unseres Lebens. Was denkst du?
Wenn ich in meinen Führungsseminaren Führungspersonen frage, ob sie sich auch öfter als Opfer der Umstände wahrnehmen, gibt es verschiedene Reaktionen. Die einen schütteln den Kopf und glauben, dass das ihnen nicht passiert. Sie sind Macher und trainiert zu handeln, und deshalb können sie gar nicht Opfer sein. Die anderen werden nachdenklich und bestätigen, dass viele Dinge in ihrem Umfeld, und vor allem die schwierigen, von ihnen nicht beeinflussbar sind und ihnen und ihren Teams deshalb das Leben schwer machen.
Den Machern entgegne ich, dass sie bestimmt auch schon gesagt haben: »Wie können die (da oben) so etwas entscheiden? Das ist totaler Unsinn!«, oder »Herr, da kann ich leider gar nichts machen, das sind die Spielregeln im Unternehmen«, oder »Weshalb trifft es immer mein Team und mich, schon wieder eine zusätzliche Aufgabe, obschon wir doch bereits mehr als genug haben!«. All diese Aussagen sind genau betrachtet Ausdruck der genannten Opferhaltung. Ich sehe mich als jemand, dem etwas zustößt, das unangenehm ist und das man im Moment nicht wirklich beeinflussen kann. Hand aufs Herz, das geschieht uns allen sowohl beruflich als auch privat.
Ein eigenes Beispiel: Ich hatte als Lead-Trainer mit einer Teilnehmergruppe in mehreren Modulen über Monate für deren persönliche sowie Führungsentwicklung gearbeitet. Es war zu Beginn nicht einfach, da ich diese Zielgruppe noch wenig kannte und lernen musste, mich auf sie einzustellen. Ich hatte eine interne Ansprechpartnerin, die mich begleitete und in allen Modulen auch mindestens teilweise mit dabei war. Sie erinnerte mich immer wieder daran, meine Inputs noch einfacher zu gestalten und sehr praxisnah zu sein, um den Zuhörenden das Verständnis zu erleichtern. Das gelang in jedem folgenden Modul besser und die Rückmeldungen der Teilnehmenden waren gut bis sehr gut. Die Zusammenarbeit mit der internen Vertreterin war grundsätzlich gut. Aufgrund ihrer besonderen Art, Dinge anders wahrzunehmen als ich, war es manchmal etwas anstrengend und kompliziert.
Nach dem zweitletzten Modul bat sie mich einige Zeit später um ein virtuelles Meeting. Nach ein paar einleitenden Höflichkeitsfloskeln eröffnete sie mir, dass sie entschieden hätte, nicht mehr mit mir als Trainer weiterzuarbeiten. Ich war sehr überrascht, sogar etwas perplex. Ich hatte eher erwartet, dass das Programm aufgrund größerer Veränderungen – darüber wurde schon gesprochen – nicht mehr in der Form stattfinden würde. Sie fragte mich noch, wie es mir mit dieser Entscheidung ging, was für mich eine unpassende Frage war. Ich wusste gar nicht recht, was ich antworten sollte. Auf meine Nachfrage, was denn die Gründe seien, konnte sie mir nur Dinge sagen, die keinen Sinn machten.
Nach diesem kurzen Gespräch fiel ich sofort in die Opferfalle. Wie konnte diese Person so frech sein und die Entscheidung treffen, ohne mit mir vorher das Gespräch als Partner zu suchen? Ich gab ihr alle Schuld, ich war fremdbestimmt und beklagte mich innerlich eine ganze Weile, bis ich bemerkte, dass ich im Opfermodus war. Erst dann konnte ich mich neu entscheiden, wieder aus der Perspektive des Gestalters meines Lebens heraus zu denken und zu handeln.
In die Opferhaltung zu fallen bei Ereignissen, die uns betreffen, die auf uns eine direkte Wirkung haben, die wir jedoch nicht beeinflussen können, ist menschlich. Wir beklagen uns über andere Menschen, die für unsere Situation verantwortlich scheinen, wir beklagen unsere schwierige Situation. Es fühlt sich sogar manchmal gut an, in diesem Zustand zu bleiben, weil wir von anderen Verständnis erhalten, weil sie uns Zuspruch geben, weil wir von anderen getröstet werden. Was wir dabei vergessen, ist, dass wir in der Opferhaltung die Verantwortung für den Umgang mit der jeweiligen Situation abgeben. Wir fühlen uns nicht verantwortlich, auf die Umstände eine selbst gewählte Antwort zu geben.
Nun komme ich zu den Führungspersonen, die nachdenklich werden und denken, dass sie viele Situationen nicht beeinflussen können. Diejenigen, welche sich zugegeben regelmäßig hilflos fühlen, ohne Möglichkeit, die für sie schwierigen Umstände zu beeinflussen. Es ist entscheidend, eine klare Unterscheidung zu treffen, um sich bewusst in den Prozess der Gestalterhaltung zu begeben.
Wenn ich in eine schwierige Situation gerate, beruflich oder privat, überlege ich hoffentlich als Erstes, was ich tun kann. Zum Beispiel, wenn du vom Chef die Information erhältst, dass dein Lieblingsprojekt aus verschiedenen Gründen gestoppt wird. Es ist sinnvoll, dass wir nach der ersten Überraschung nachfragen, ob das fix ist oder ob es sich lohnt, sich doch noch für die Weiterführung einzusetzen. Es ist sinnvoll, nachzufragen, was genau die Gründe für den Abbruch sind. Ebenso könnte man im Gespräch zum Ausdruck bringen, dass man ehrlich enttäuscht ist. Es gibt in einer solchen Situation also immer Möglichkeiten, konkret etwas zu tun. Irgendwann kommt allerdings der Moment, in dem du realisierst, dass deine ersten Aktionen und Reaktionen nichts an der neuen Situation verändern. Dann setzt oft erneut das Gefühl von Hilflosigkeit ein.
Wenn du erkennst, dass du wie im Fall des Projektabbruchs nichts tun kannst, empfehle ich, die Frage neu und anders zu stellen. Sie heißt dann nicht: »Was kann ich tun?«, sondern »Welche Möglichkeiten habe ich, damit umzugehen? Wie kann ich auf diese Situation antworten?«
Dann kommen unter anderem folgende Möglichkeiten infrage:
Du kannst weiterhin die Entscheidung hinterfragen und mit weiteren Personen darüber sprechen und prüfen, ob wirklich nichts zu machen ist. Das gibt dir das Gefühl, alles in deiner Macht Stehende getan zu haben, auch wenn sich letztlich doch nichts ändert.
Du kannst die Entscheidung ablehnen und dich in der Folge negativ äußern und dich beklagen.
Du kannst die Entscheidung bewusst akzeptieren und dir Gedanken darüber machen, welche Alternativen es gibt, die besprochen werden können.
Du kannst resignieren, einfach nichts tun und abwarten.
Du kannst zu dem Schluss kommen, dass du dir das nicht bieten lassen willst und entweder eine Kündigung androhen oder direkt kündigen.
Die genannten Optionen beinhalten nur teilweise oder als Folge einer inneren Entscheidung eine konkrete Aktion. In erster Linie sind es jedoch Entscheidungen zur inneren Haltung im Umgang mit der äußeren Situation. Du hast so gesehen, immer die Wahl. Das klingt etwas radikal, hat aber eine große Wirkung. Weshalb? Du veränderst das Gefühl der Hilflosigkeit hin zur Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen, auch wenn sich die Bedingungen nicht ändern. Das macht einen großen Unterschied. Du bleibst gleichsam im Driver Seat. Es ist allerdings zu ergänzen, dass jede Wahl auch ihren Preis hat und man diesen akzeptieren muss.
Wenn ich die Entscheidung innerlich weiterhin ablehne, werde ich verärgert sein und diesen Ärger andere spüren lassen. Das kann unangenehm werden. Wenn ich mich beklage, bleibe ich im Opfermodus und weiterhin frustriert. Wenn ich die Entscheidung akzeptiere, muss ich mir überlegen, was ich genau will und mit wem ich nach Lösungen suche. Dafür muss ich Zeit investieren. Wenn ich tatsächlich aufgebe und kündige, muss ich mich um eine neue Stelle kümmern und um meine Zukunft. Es gibt in der Regel keine Wahl ohne Preis. Aber der springende Punkt ist, dass ICH die innere Wahl treffe und dafür Verantwortung übernehmen kann. Interessanterweise enthält das Wort Verantwortung den Begriff der »Antwort«. Es geht darum zu realisieren, dass ich nicht als passives Subjekt reagiere, sondern dass ich bewusst auf die Situation antworte.
Die Herzkohärenz erhöht die Chance, dass wir in schwierigen bis ausweglosen Situationen rasch Klarheit darüber gewinnen, wie wir am besten mit dieser Situation umgehen können, und uns unserer Wahlmöglichkeiten bewusst sind.
Ein Leben als Lebensgestalter ist ein anderes Leben, das kann ich ob meiner eigenen Erfahrung garantieren. Es gibt sogar Studien, die aufzeigen, dass eine hohe persönliche Kontrolle einen Einfluss auf das Todesrisiko hat. In einer solchen Studie mit fast dreitausend Menschen im Alter zwischen fünfundfünfzig und fünfundachtzig Jahren zeigte sich, dass diejenigen mit einem hohen Maß an persönlicher Kontrolle ein um sechzig Prozent geringeres Todesrisiko hatten, denen gegenüber, die sich grundsätzlich meistens eher hilflos fühlten (Herz-Intelligenz-Methode 2022). Grundhaltungen können gesund oder krank machen.

Claude Heini gilt als Meister der Selbstführung und wirkungsvollen Beziehungsgestaltung. Er zählt zu den führenden Leadershipexperten im deutschen Sprachraum. Als »moderner Lehrer«, Executive Coach und Berater steht er für Inspiration, Kreativität, Intuition und ist mit seinem ganzheitlichen mentalen und emotionalen Ansatz ein gefragter Sparringpartner.

