Vertriebserziehung

Die Mehrzahl aller Entscheider spricht sich gegen Lemminge aus. Gerade Verkäufer sollten flexibel, selbstsicher, proaktiv und intelligent sein – so suggerieren es die Stellenanzeigen. Doch kaum ist der neue Verkäufer an Bord, wird er ins Erziehungslager gesteckt. Vertriebserziehung ist wichtig, damit er freundlich zum Kunden ist, nahtlos im Team untergeht und nach Lehrbuch verkauft. Er wird weichgespült bis zur Unkenntlichkeit – das selbst die Kunden weglaufen möchten …

Otto Normalverkäufer ist ein netter Mensch. Er hat das Verkaufen zu einer Zeit gelernt, als Kunden zu ihm kamen, Produktinformationen erfragten und er ihnen erklären konnte, wie das Produkt funktioniert und welchen Nutzen sie davon haben würden. Es reichte oft schon aus, am Ende des Gesprächs eine Empfehlung für die eine oder andere Variante auszusprechen, und der Kunde hat zufrieden gekauft. Heute schimpft Otto über seine Kunden. Sie wollen immer nur billig oder noch schlimmer: Sie lassen sich von ihm nur beraten und kaufen dann woanders. Bei seinem Kollegen aus dem Geschäftskundenvertrieb hört sich das ganz ähnlich an: »Unsere Präsentationen kommen beim Kunden nicht mehr gut an …«, »Ständig werden wir mit den Wettbewerbern verglichen und am Ende nehmen die sowieso den billigsten.«

Dabei schwingt immer auch eine Spur Hilflosigkeit mit, denn was soll man denn anders machen? Was man machen soll? Alles, nur bitte nicht jammern und weitermachen im Trott. Es ist im Grunde egal, was Otto konkret tut. Viel wichtiger ist, was in seinem Kopf passiert. Er muss endlich nur raus aus seiner Deckung und den Erklärungs- und Rechtfertigungsversuchen. Die reiten ihn nämlich immer weiter rein in ein Spiel, das er definitiv nicht gewinnen kann. Der Kunde glaubt, wenn er auf solche Kundenberater trifft, am Ende sogar wirklich, dass es in dem Geschäft zu teuer ist. Dazu muss er nur die Denkhaltung der Verkäufer übernehmen.

Dieses Raus-aus-der-Deckung klingt so einfach und unser Otto hört es auch nicht zum ersten Mal. Es ist aber eben nicht einfach. Und das liegt daran, dass er es nun einmal nicht anders gelernt hat. Und zwar schon bevor er seine Verkaufstätigkeit begonnen hat. Schon als Kind hat er gelernt (besser gesagt, es wurde ihm von Schule und Elternhaus beigebracht), immer höflich zu sein, nicht zu widersprechen und alles immer richtig zu machen. Richtig, aus der Sicht der anderen. Auch im Unternehmen hört er immer wieder, dass der Kunde König sei und dass das eigene Gehalt nicht von der Buchhaltung, sondern von eben diesem königlichen Kunden gezahlt würde. Und dass man für jeden Kunden dankbar sein muss. So bringt sich Otto jeden Tag aufs Neue in Situationen, die er eigentlich gar nicht will. Er weiß ganz genau, dass sein Verkaufsgespräch auf diese Art und Weise wenig Sinn macht, und sieht vor seinem geistigen Auge den Kunden schon woanders kaufen. Er hat eine negative Grundeinstellung, ist gestresst und wenig aufmerksam. Das Entscheidende aber ist das, was daraus resultiert: Der Normalverkäufer mag seine Kunden oft nicht mehr. Er kann ihnen wenig Wertschätzung oder sogar Respekt entgegenbringen. Aber mit weiteren Methodentrainings in Argumentation, Fragetechnik oder sogar Einwandbehandlung wird sich die Situation eher noch verschlimmern. Denn Ottos Problem ist nicht seine Verkaufstechnik, sondern seine Haltung. Menschen wie er müssen erst sich ändern, um die Situation ändern zu können. Sie müssen ihre eigenen Muster und die Spielregeln im Kopf loswerden. Dann können sie auch nach außen anders wirken und vielleicht wieder etwas bewirken. Denn momentan reagieren die Menschen nur auf Otto, sie spielen sein Spiel unbewusst mit. Die Ängstlichkeit und der Stress von Otto übertragen sich auf den Kunden, das Gleiche passiert mit seiner Unsicherheit.

Ein selbstbewusster Otto, der dem Kunden auf Augenhöhe begegnet und überzeugt ist, dass er mit seinen Jahren an Erfahrung und seinem immensen Wissen jedem Online-Best-Preis Paroli bieten kann, hat auch den Mut, zu seinem Kunden zu sagen: »Herr Kunde, es freut mich, dass Sie hier sind und ich Sie beraten kann.« Und wenn er spürt, dass der Kunde für sich schon eine Kaufentscheidung getroffen hat, dann geht er mit dem Kunden noch wie selbstverständlich zum Zubehör und erst dann zielstrebig zur Kasse. Er sagt auch nicht mehr wie früher Sätze wie: »Sie können sich das gerne noch einmal überlegen, ich will ja nicht drängen.«

Aber auch wenn er mal wieder einen von diesen Kunden hat, die wirklich nur den Preis drücken wollen und denen es total egal ist, dass sie hier eine professionelle Beratung bekommen, die sie nichts kostet, und dann doch im Internet bestellen, dann hat er wahrscheinlich auch den Mut und die Haltung zu sagen: »Herr Kunde, wenn es woanders so viel günstiger ist und Sie wirklich nur auf den Preis achten, dann empfehle ich Ihnen den Kauf dort zu tätigen.«

Weich gespülte Verkäufer

Menschen müssen heute trainiert werden, um freundlich zum Kunden zu sein. Oder um verkaufen zu können. Zumindest sieht das auf den ersten Blick so aus. Bevor sie zum Kunden gehen, brauchen sie erst einmal ein Servicetraining oder ein Kommunikationstraining. Allein diese Tatsache finde ich schon erschreckend. Wo bleibt das Vertrauen in die Menschen, dass sie von sich aus freundlich und vertrauensvoll mit anderen Menschen kommunizieren können? Gleichzeitig berichtet die Mehrzahl der Verbraucher und Entscheider im B2B-Bereich, dass sie keine Lust auf Menschen haben, die sich wie Lemminge verhalten und durch unnatürliche Sprache und Gesten, stereotype Floskeln und PR-Phrasen beeindrucken wollen. Bevor Verkäufer heute das erste Mal Gelegenheit haben, ein Kundengespräch zu führen, müssen sie oft tagelange Produkt-, System-, Verkaufs- oder Prozessschulungen hinter sich bringen, damit sie auch wirklich bestens vorbereitet sind. Und in diesem Prozess lernen sie, wie es vermeintlich am besten funktioniert. Es wird immer noch vermittelt, dass es wichtig und richtig ist, den Kunden im Gespräch vier bis fünf Mal mit seinem Namen anzusprechen. Das wird sogar kontrolliert und im Feedback durch eine Führungskraft aufgegriffen. Natürlich ist die Namensansprache ein Mittel, um eine persönliche Ebene aufzubauen. Aber warum vier bis fünf Mal? Wie kommt diese Zahl zustande und wer behauptet, dass diese richtig sei? Ein Grund ist wohl, dass man die Zahl braucht, um bei Qualitätscoachings einen Haken beim Punkt Namensansprache machen zu können.

Ein weiterer Klassiker sind sogenannte Brückenformulierungen für die Nutzenargumentation. »Damit sparen Sie«, »Das bietet Ihnen den Nutzen, dass …«, »Sie erhalten die Sicherheit …« und so weiter. Natürlich sind diese Phrasen grundsätzlich geeignet, um Nutzen auszudrücken. Aber diese Formulierungen sind nicht sehr überzeugend – so spricht im normalen Leben niemand. Geht das nicht menschlicher? Auch Rückmeldetechniken werden meist mit demselben Wording eingeleitet.

Verkäufer lernen, dass alle Menschen verschiedenen Typen angehören und dass man sie diesen Typen aufgrund von einzelnen Ausdrücken zuordnen kann. Sie versuchen, andere zu lesen, scheitern aber bei der eigenen Selbsteinschätzung. Am Ende gibt es noch Stimmbildung und Körpersprache in 60-Minuten-Blöcken, was dazu führt, dass die Teilnehmer den Kunden künstlich modulierend ansingen und die Hände nicht mehr unter die Gürtellinie bekommen, weil man ihnen gesagt hat, dass dies die negative Zone sei. Von allem ein bisschen, aber nichts richtig. Um diese Themen seriös zu vermitteln, braucht man mehrere Wochen, um sie zu begreifen und wirklich optimal anzuwenden, mehrere Jahre. Leider konzentrieren sich die Verkäufer dann nur noch auf ihren Stimmklang und die Körperhaltung des Gegenübers und überlegen, ob ihr Gesprächspartner nun ein gelb-blauer oder gelb-grüner Typ ist. Dabei bleibt die Aufmerksamkeit auf der Strecke und der Kunde hat das Gefühl, eine künstliche Lebensform vor sich zu haben. Empathie kann man nicht durch Floskeln ausdrücken, aktives Zuhören ist mehr als Kopfnicken an einer bestimmten Stelle. Kreativität muss man leben wollen und dürfen.

In der Stellenanzeige hat man noch flexible, selbstsichere, proaktive und intelligente Menschen gesucht. Was ist der Grund dafür, sie nun in ein vollkommen vorbestimmtes System zu pressen und zu sagen: »Nun zeigen Sie mal, was Sie können. Wir glauben ja schließlich an Ihre Fähigkeiten – schließlich haben wir uns ja für Sie entschieden!«? Ich gebe zu, dass ich etwas überzeichne. Aber nur etwas. Die Ursache für diese Diskrepanz liegt darin, dass alle im Verkauf mitreden wollen und genaue Vorstellungen haben, wie das aus ihrer Sicht am besten abläuft. Die IT gibt vor, wie das System auszusehen hat, das Marketing liefert die Verkaufsunterlagen und startet Aktionen, das Qualitätsmanagement definiert die eigenen Qualitätsfaktoren. Kommunikations- und Verkaufstrainer geben den Psychologen und glänzen mit gefährlichem Halbwissen oder schlichtweg falschen Informationen. Jeder Mitarbeiter, der einmal etwas vom Eisberg-Modell und Friedemann Schulz von Thun gehört hat, wird zum Trainer oder Multiplikator. Und die wenigsten davon haben schon mal einen Kunden live gesehen oder etwas verkauft. Klappt es am Ende nicht, liegt es am Verkäufer, der irgendwie versucht, eine fünfzigseitige PowerPoint-Präsentation in 90 Minuten kostbarer Zeit beim Kunden vorzuführen. Es ist nicht verwunderlich, wenn sich die Top-Verkäufer gegen diese Dressur wehren. Wenn sie in ihrer eigenen Sprache sprechen und den Kunden, der ein Problem hat, mit den Worten »Wo hängt’s denn?« begrüßen, anstatt mit der üblichen Formel »Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«. Sie nutzen alle Spielräume aus und in Prüfungssituationen verhalten sie sich wie gewünscht.

Jeder Verkäufer wird am Ende an seinen Leistungen und Ergebnissen gemessen. Und deshalb darf man den wirklich erfolgreichen Verkäufern nicht vorwerfen, dass sie etwas für diesen Erfolg tun. Und wenn der Kunde gewonnen ist, fragt kein Vorgesetzter mehr danach, ob beim Ersttermin auch ausführlich auf die sechs Tochterunternehmen eingegangen wurde, die in der Präsentation aufgeführt sind. Stellen Sie sich einmal vor, Sie stellen einen neuen Verkäufer ein, der bisher nachweislich erfolgreich war und Sie als Mensch überzeugt hat. Sie geben ihm die Möglichkeit, sich zwei Wochen im Unternehmen frei zu bewegen, mit Menschen aus der Produktion zu sprechen, mit Kunden, mit dem Marketing, der Buchhaltung und dem Pförtner. Und danach schicken Sie ihn zu einem Interessenten oder Kunden. Wo liegt das Risiko? Was können Sie gewinnen? Was können Sie jetzt erfahren, das Sie nie wieder erfahren, wenn der Mitarbeiter erst einmal durch den Schulungsmarathon durch und nach einem halben Jahr schon unternehmensblind ist. Neue Mitarbeiter brauchen keinen Welpenschutz. Im Gegenteil. Sie müssen vom ersten Moment an gefördert und gefordert werden. Sie sollten sich Vertrauen nicht erst erarbeiten müssen, sondern brauchen einen Vertrauensvorschuss. Sie brauchen Vorgesetzte, die ihnen etwas zutrauen und wenn nötig den Kopf dafür hinhalten, wenn etwas nicht gleich geklappt hat. Gerade Verkäufer brauchen Freiheiten, um sich selbst als Menschen einzubringen. Das ist der Unterschied zum Onlineshop.

»Ich gebe den neuen Mitarbeitern erst einmal nur Adressen, bei denen sie nichts verbrennen können.« Ist die Angst, dass etwas verbrennt, größer als die Chance, dass genau dieser Mitarbeiter das Ziel erreicht? Wenn keiner der Kollegen diesen Kunden bisher gewinnen konnte, dann ist das Schlimmste, was passieren kann, doch, dass der neue Mitarbeiter es ebenfalls nicht schafft. Und vielleicht wird der bisherige Nicht-Kunde ja gerade deswegen zum Kunden, weil er ein neues Gesicht sieht, auf jemanden trifft, der noch nicht die bekannte Litanei singt und vielleicht ein paar naive Fragen stellt, weil er einfach den Gesprächspartner noch nicht so gut kennt?

Wer als Führungskraft mutige Verkäufer will, muss selbst mutig sein. Wer von seinen Verkäufern erwartet, dass diese auch mal ein Risiko eingehen, und wer ihnen Fehler zugesteht, darf das als Führungskraft auch für sich in Anspruch nehmen. Das sorgt in der Regel auch für mehr Respekt bei den Mitarbeitern.

Weich gespülte und standardisierte Verkäufer sind vermeintlich einfacher zu führen und zu kontrollieren. Aber sie sind ein höheres Risiko für den Erfolg als Verkäufer mit Ecken und Kanten, die aber klar wahrnehmbar sind. Die große Chance liegt darin, Verkäufer zu entwickeln, die in der Interaktion mit dem Kunden oder Interessenten ernst genommen werden, weil man ihnen abnimmt, dass sie sich für den Kunden wirklich interessieren. Als Mensch. Solange die Kommunikation der Situation und den Gesprächspartnern gegenüber angemessen und möglichst natürlich ist, entsteht kein Stress und man kann sich voll auf die Inhalte konzentrieren. Der entscheidende Faktor ist am Ende immer die Qualität der Interaktion zwischen dem Menschen Verkäufer und dem Menschen Kunde.

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