Echte Führung beginnt mit echtem Zuhören. In meinen mehr als drei Jahrzehnten internationaler Führungserfahrung habe ich immer wieder erlebt, dass die Qualität des Dialogs unmittelbar die Qualität der Führung bestimmt. Dialog ist nicht einfach ein nettes Extra, sondern eine fundamentale Führungsdisziplin – vielleicht die wichtigste überhaupt.
Die Macht des aktiven Zuhörens: eine persönliche Erfahrung
Es war ein kalter Januarmorgen in Connecticut. Als frisch ernannter Verkaufsleiter bei Hilti stand ich vor einem Team von elf erfahrenen Verkaufsberatern – die meisten mit zwanzig Jahren mehr Verkaufserfahrung als ich. Die Skepsis war in ihren Gesichtern deutlich zu lesen: »Was kann uns dieser Neue aus dem Marketing, noch dazu ein Österreicher, schon beibringen?« Anstatt mit einer beeindruckenden Präsentation zu beginnen oder meine Vision für das Team zu verkünden, stellte ich eine einfache Frage: »Wenn ihr drei Wünsche an mich als euren neuen Verkaufsleiter hättet, welche wären das?« Die anfängliche Überraschung wich einer lebhaften Diskussion.
Nach einigem Überlegen kristallisierten sich drei zentrale Wünsche heraus:
- ein Konferenzraum im Hilti-Center Hartford,
- ein neues Hilti-Center im Süden der Region,
- ein Besuch im Headquarter in Liechtenstein.
Ich notierte diese Wünsche sorgfältig und fügte hinzu: »Mein einziger Wunsch ist, dass wir gemeinsam die beste Verkaufsleiter-Gruppe in der Region werden.«
Was in diesem Moment geschah, legte den Grundstein für ein außergewöhnlich erfolgreiches Jahr. Die verschränkten Arme lösten sich, die Gesichter wurden offener, der Ton veränderte sich. Allein durch die Bereitschaft, zuerst zuzuhören statt zu reden, hatte sich die Dynamik fundamental gewandelt. Am Ende dieses Jahres hatten wir nicht nur alle drei Wünsche erfüllt, sondern waren tatsächlich die beste Verkaufsleiter-Gruppe in der gesamten Region geworden. Die einfache Entscheidung, mit Dialog statt Direktiven zu beginnen, hatte den entscheidenden Unterschied gemacht.
Die drei Ebenen des Zuhörens
Dialog als Führungsdisziplin geht weit über höfliches Nicken hinaus. Es umfasst drei distinkte Ebenen des Zuhörens, die jede Führungskraft beherrschen sollte:
Aufmerksames Zuhören (Niveau 1)
- Vollständige Präsenz – keine Ablenkungen durch Telefon, E-Mails oder andere Gedanken,
- bewusstes Ausblenden von Störfaktoren,
- Fokus auf den Sprechenden – Blickkontakt halten, zugewandte Körperhaltung,
- Zurückhaltung mit eigenen Beiträgen – nicht andere unterbrechen.
Aktives Zuhören (Niveau 2)
- Paraphrasieren des Gehörten
- (»Wenn ich dich richtig verstehe, sagst du …«),
- gezieltes Nachfragen, um tieferes Verständnis zu gewinnen,
- Reflektieren der emotionalen Komponente (»Es scheint, dass dich das frustriert …«),
- Bestätigung des Verständnisses einholen.
Empathisches Zuhören (Niveau 3)
- Sich in die Perspektive des anderen hineinversetzen können,
- die unausgesprochenen Bedürfnisse und Motivationen erkennen,
- das Warum hinter dem Was verstehen,
- ein authentisches Interesse an der Person entwickeln, nicht nur am Thema.
Die meisten Führungskräfte bleiben auf Niveau 1 stehen oder – noch problematischer – praktizieren ein Pseudo-Zuhören, während sie innerlich bereits ihre Antwort formulieren. Exzellente Führung erfordert jedoch die Fähigkeit, zwischen allen drei Ebenen bewusst zu wechseln und besonders in kritischen Momenten Niveau 3 zu erreichen.
Vier praktische Dialog-Techniken für den Führungsalltag
Die folgenden vier Techniken habe ich über Jahre in unterschiedlichsten Führungssituationen erprobt und verfeinert. Sie sind leicht zu implementieren und erzielen unmittelbare Wirkung.
1. Die Drei-Wünsche-Methode
Umsetzung: Frage bei Übernahme eines neuen Teams oder Projekts nach den drei wichtigsten Wünschen oder Anliegen.
Vorteil: Schafft sofort Beteiligung und zeigt authentisches Interesse.
Praxistipp: Dokumentiere die Wünsche sichtbar und berichte regelmäßig über Fortschritte.
Zeiteinsatz: dreißig bis sechzig Minuten für das initiale Gespräch, dann regelmäßiges Follow-up.
2. Der Dialogspaziergang
Umsetzung: Führe wichtige Gespräche während eines kurzen Spaziergangs statt im Büro.
Vorteil: Die Bewegung und der Szenenwechsel entspannen, reduzieren Hierarchiegefälle und fördern offenere Kommunikation.
Praxistipp: Halte diese Spaziergänge kurz (fünfzehn bis zwanzig Minuten) und mit klarem Fokus.
Zeiteinsatz: Nicht länger als übliche Gespräche, aber mit deutlich besserer Qualität.
3. Die 2+1-Regel
Umsetzung: Stelle zwei offene Fragen, bevor du eine eigene Meinung äußerst.
Vorteil: Verhindert vorschnelle Urteile und erschließt mehr Perspektiven.
Praxistipp: Nutze bewusst offene Fragen (beginnend mit »Wie?«, »Was?«, »Welche?«).
Zeiteinsatz: Integriert in normale Gespräche, verlängert diese minimal, erhöht aber die Qualität enorm.
4. Der Montagskreis
Umsetzung: Starte die Woche mit einem kurzen, informellen Team-Dialog.
Vorteil: Schafft regelmäßigen Raum für offene Kommunikation jenseits operativer Meetings.
Praxistipp: Halte den Kreis strukturiert aber informal – beginne mit einer Runde persönlicher Updates, erst dann ein thematischer Fokus.
Zeiteinsatz: dreißig Minuten wöchentlich, mit signifikanten Effizienzgewinnen durch bessere Teamsynchronisation.
Die Montagskreis-Methode hat sich besonders bewährt. Bei Bösch half ich einem technisch brillanten, aber in Kommunikation schwächeren Abteilungsleiter, dieses Format einzuführen. Nach wenigen Wochen berichtete er: »Früher habe ich gesprochen, um zu führen. Heute höre ich zu, um zu führen.« Sein Team entwickelte sich zu einem der innovativsten im Unternehmen.

Peter Mender ist Führungsexperte und Unternehmer mit internationaler Top-Management-Erfahrung. Er entwickelte das DINAMIS®-Modell – ein praxiserprobtes System empathischer Hochleistungsführung – aus drei Jahrzehnten Berufserfahrung im internationalen Vertrieb und Marketing sowie als Geschäftsführer bei Hilti, Bösch, Viessmann und anderen. Seine Führungsphilosophie verbindet Menschlichkeit mit klarer Zielorientierung. Heute begleitet er mit seiner Beratungsfirma Führungskräfte und Vertriebsteams im DACH-Raum auf dem Weg zu wirksamer, wertebasierter Führung.

