Sprache ist nicht von ungefähr weiblich. Sie zieht ein blaues Kleid an und will, dass man das rote bewundert. Sie sagt ja und meint nein. Sie deutet an, behauptet das Gegenteil, schwächt ab oder redet um den heißen Brei herum. Sprache muss weiblich sein, denn andernfalls gäbe es Mord und Totschlag, kleine und große Katastrophen. Sprache ist und kann viel mehr als primitive Männergehirne ahnen.
Der berühmte englische Schriftsteller Shakespeare hat Recht. In einem seiner frühen Dramen, König Heinrich VI., meint er: „Oft sagt man ein Ding und meint es nicht.“ Eigentlich untertreibt der Autor noch, denn Meinen und Sagen driften viel häufiger auseinander, als uns dies bewusst wird. Ein Beispiel aus dem Alltag: „Kannst Du mir sagen, wie spät es ist?“ „Ja!“ Betrachtet man die erste Äußerung, dann ist die Antwort korrekt. Person A stellt eine Entscheidungsfrage, ob B in der Lage ist. Wenn B mit ja oder nein antwortet, weiß A Bescheid. Trotzdem wird die korrekte Antwort beim Fragenden Ärger, Lachen oder ärgerliches Lachen hervorrufen, denn indirekt war seine Frage keine solche, sondern eine Aufforderung, ihm die Uhrzeit zu nennen. Ein anderes Beispiel. Der in Liebe Entbrannte zur Angebeteten: „Darf ich sie für morgen Abend zum Essen einladen?“ Wieder keine Frage, sondern die Einladung selbst. Dass es eine solche ist, wird durch das Verb einladen angezeigt. Unsere Sprache – wie übrigens andere Sprachen auch – hält also Äußerungen bereit, bei denen uns gar nicht mehr bewusst wird, dass sie anders oder sogar gegenteilig gemeint sind. Sie werden unabhängig von der Situation anders verstanden als gesagt. Dazu zählen insbesondere Fragen, die Aufforderungen sind: „Hältst Du dich da raus? (Halt dich da raus!)“, „Kann mir mal jemand sagen, wo die Fernbedienung ist? (Gebt mir mal die Fernbedienung!)“, „Gibst du mir mal das Salz rüber? (Gib mir mal das Salz rüber!)“.
Viele von diesen als indirekt bezeichneten Äußerungen sind stark standardisiert. Auch ohne den Gesprächszusammenhang wissen wir, wie sie eigentlich gemeint sind. Darum brauchen wir nicht lange zu überlegen oder Schlussfolgerungen zu ziehen, um den gemeinten Sinn deuten zu können. Ihre Form ist so fest in unserem Bewusstsein verankert, dass uns gar nicht mehr klar wird, dass sie eigentlich etwas anderes bedeuten.
Andere indirekte Sätzen sind jedoch überhaupt nicht festgelegt. Bei ihnen wird ausschließlich aus der Situation heraus deutlich, dass sie indirekt gemeint sind und auch so vom Hörer verstanden werden (sollen). Und genau in dieser Bindung an eine bestimmte Situation liegt auch der Grund für viele Missverständnisse. Folgende Situation: Besuch von Freunden, die, obwohl bereits nach zwölf und mitten in der Woche, partout nicht gehen wollen und es sich auf der Couch so richtig gut gehen lassen. Die Äußerung des Hausherrn Klaus Meier „Morgen früh habe ich volles Programm in der Firma“ ist aus der Situation heraus als höfliche Aufforderung gemeint, nun endlich zu gehen. Da der Sprecher nicht unhöflich erscheinen möchte, kleidet er die eigentlich gemeinte Aufforderung „Es ist Zeit, dass Ihr jetzt geht“ in eine Feststellung über den nächsten Tag. Er hofft, dass seine Besucher aufgrund ihrer Erfahrungen und ihres Alltagswissens die richtige Schlussfolgerung ziehen und sich erheben. Wenn der Besuch dennoch sitzen bleibt, ist der Hausherr gezwungen, seine Aufforderung direkt zu formulieren. Oder er schenkt noch einmal nach und übt zähneknirschend weiterhin small talk.
Wenn Klaus Meier denselben Satz „Morgen früh habe ich volles Programm in der Firma“ am Mittag in der Kantine zu seinem Kollegen sagt, dann ist keineswegs ein Hinweis auf das kauende Gegenüber, nun langsam den Tisch zu verlassen, sondern lediglich eine Feststellung. An diesem Beispiel wird klar, dass es auch Äußerungen gibt, die je nach Situation anders verstanden werden. Zugleich wird deutlich, dass es letzten Endes immer der Hörer ist, der entscheidet: Verstehe ich den Satz nun direkt oder indirekt.
Zur Situation gehört dabei auch das soziale Verhältnis vom Sprecher zum Hörer. Wenn der Praktikant zum Beispiel zur Sekretärin sagt, „Kopieren Sie mir bitte diese Akte?“, dann liegt es allein in ihrem Ermessen, dieser indirekten Aufforderung Folge zu leisten. Die haargenau gleiche Frage/Aufforderung vom Chef geäußert tendiert jedoch schon stark in Richtung Befehl, dem kaum widersprochen werden kann. Noch deutlicher als bei Aufforderungen, die formal als Frage daherkommen, wird das Missverhältnis zwischen meinen und sagen bei Ironie oder ironischem Sprechen. Wenn ein Sprecher ironisch wird, dann meint er das glatte Gegenteil von dem, was er gesagt hat. Steht beispielsweise der werte Gemahl morgens nach durchzechter Nacht vor dem Spiegel und hört seine holde Gattin sagen: „Du siehst heute wirklich aus wie Adonis“, dann weiß er, dass er lieber im Bett bleiben sollte. Was die Gnädigste eigentlich meint, ist: „Du siehst heute sehr übel aus“, vorsichtig ausgedrückt.
Oder wenn Söhnchen mal wieder mit einer löchrigen und verschmutzten Hose nach Hause kommt, dann sagt die Mutter: „Das hast du ja wieder mal prima hingekriegt!“ Was sie meint, ist kein Lob, sondern das genaue Gegenteil, Tadel. Interessant ist nun, warum Sohni den Satz der Mutter auch als Tadel versteht, obwohl Mama strenggenommen ein Lob formuliert. Das hat zwei wesentliche Gründe. Zum einen verwendet die Mutter Ironiesignale, die dem Rabauken zeigen, wie er die Äußerung zu verstehen hat. In unserem Fall sind dies die Wörtchen ja und wieder mal. Darüber hinaus kann man sich gut vorstellen, in welchem Tonfall die Mutter spricht. Zum anderen wird aus der Situation heraus klar, wie der Satz zu verstehen ist; eben nicht direkt als Lob, sondern indirekt als Tadel.
Indirekte Äußerungen, mit denen ich etwas anderes meine als ich sage, können also stark, mittelprächtig oder schwach standardisiert sein. Bei den nur schwach oder gar nicht standardisierten bestimmt ausschließlich die Situation, wie sie vom Hörer verstanden werden. Darum wird häufig bei Gericht auch so oft um die gemeinte Bedeutung von einzelnen Sätzen gestritten. Man stelle sich zum Beispiel einen Prozess wegen Beamtenbeleidigung vor. Der Angeklagte hat, so der Polizist, im Verlaufe einer Fahrzeugkontrolle wörtlich geäußert: „Im übrigen bin ich ja der Meinung, dass männliche Kühe auf die Weide gehören und nicht auf die Straße.“ Wörtlich genommen hat der Angeklagte den Polizisten keineswegs beleidigt, sondern lediglich eine Feststellung getroffen bzw. seine ganz persönliche Meinung geäußert. Der Polizist kann den Satz auch so verstehen. Allerdings wird er sich jedoch wundern, warum der Autofahrer plötzlich seine Meinung zu einem Thema äußert, das mit der Situation der Verkehrskontrolle offensichtlich gar nichts zu tun hat, zumal der Fahrer nicht nach seiner Meinung zu Kühen befragt wurde. Wenn der Beamte jedoch zu Recht annimmt, dass sein Gegenüber nicht irgendetwas wirr daherredet und es einen bestimmten Grund für diese scheinbar zusammenhangslose Äußerung gibt, dann wird er sie sehr wohl als Beleidigung interpretieren: Männliche Kühe sind Bullen, Bulle ist ein Schimpfwort, da ich ein Polizist bin, kann er nur mich meinen… Sauerei! Unter Beachtung der Situation kann der Polizist den Satz also durchaus als Beleidigung verstehen, da männliche Kühe nun mal Bullen sind und dies als beleidigend geltendes Synonym für die Angehörigen der Staatsmacht gilt.
Warum aber, so fragt man sich, sagen wir nicht immer und überall direkt, offen und zielgerade heraus, was wir meinen? Eine Quelle für indirektes Sprechen, bei dem wir etwas anderes meinen als wir sagen, scheint also Höflichkeit zu sein. Unserem Gegenüber geben wir mit Sätzen, die zumindest der Form nach eine Frage sind, die scheinbare Möglichkeit zu wählen. Ein Satz wie „Ich lade Sie hiermit für morgen Abend zum Essen ein“ würde weniger wirken und die Chance, einen Korb zu erhalten, dramatisch erhöhen. Es geht aber auch darum, andere nicht zu verletzen, taktisch zu handeln oder vorsichtig zu agieren. Die Angebetete wird eben leichter der Einladung folgen, wenn diese formal als Bitte geäußert wird, Sohni wird über den ironisch als Lob daherkommenden Tadel weniger sauer sein, als wenn dieser direkt formuliert wäre.
Indirektheit ist innerhalb der Sprache also kontextunabhängig oder stark an die Situation gebunden. Indirektheit wird jedoch auch von einem zum anderen Kulturkreis ganz unterschiedlich aufgefasst; und da beginnen dann die wirklichen Probleme. Wie groß diese werden können, zeigt das Beispiel USA-Japan.
Die Amerikaner sagen häufig direkt, was sie denken. Wünsche, Vorschläge, Ablehnung oder Zustimmung werden nicht durch die Blume, sondern ohne Umwege geäußert. Dies liegt unter anderem an der starken Individualisierung der Gesellschaft; der Einzelne ist für sein Tun selbst verantwortlich und darf sich nicht in der Gemeinschaft verstecken. Anders hingegen die Asiaten. In Japan tritt der Einzelne hinter die Gemeinschaft zurück, das Individuum fühlt sich als unvollständiger Teil der Gruppe und wird auch im Wesentlichen über die Gruppe definiert. Darum bevorzugen Japaner die Indirektheit in verschiedenen Formen. Besonders jedoch, wenn es um negative Dinge geht. Diese extrem unterschiedliche Einstellung ist hauptsächlich bei geschäftlichen Verhandlungen störend und hat schon zum vollständigen Abbruch derselben geführt. Wenn Amis ein nein meinen, dann sagen sie dies auch. Wenn Japaner ein nein meinen, dann stehen ihnen ungefähr zwanzig Möglichkeiten zur Verfügung, dies indirekt zu äußern. Sie können zum Beispiel ein langgezogenes „ssaaaaa“ äußern, was ungefähr unserem „Hmmmm“ entspricht, sie können das Thema wechseln, ihre Antwort mit „Aber…“ einleiten oder einem Dritten die Bürde des Nein-Sagens auferlegen.
Die Sprache ist also nicht nur ein Mittel, um Informationen eindeutig zu übermitteln, wie dies die Nachrichtentechnik normalerweise tut. Mithilfe der Sprache stellen wir soziale Kontakte her, erhalten sie aufrecht und versuchen, bestimmte Sprachhandlungen auf indirektem Wege zu äußern. Dass dies mit ganzen Sätzen geschieht, haben die Beispiele gezeigt. Aber auch schon einzelne Wörter zeigen das Bemühen, unser Zusammenleben weiterhin gütlich zu organisieren. Mit Hilfe beschönigender Ausdrücke, den Euphemismen, wollen wir zum Beispiel schmerzhaften Wahrheiten die Spitze abbrechen und unterschwellig Trost zusprechen. Sterben bezeichnen wir darum mit heimgehen, einschlafen oder verscheiden. Und immer häufiger greifen auch Politiker zu diesem Mittel, da sie die blanke Wahrheit den Bürgern nicht mehr zumuten wollen. Stagnation ist Nullwachstum, Arbeiter werden nicht (negativ formuliert) entlassen, sondern (positiv) freigesetzt. Indirektheit, Ironie, gegenteiliges Sprechen und Euphemismen begegnen uns also häufiger als gedacht. Sie sind notwendig, um die manchmal nicht sehr stabile Gemeinschaft der Menschen zu stabilisieren und erträglich zu gestalten. Würde jeder an jedem Ort in jeder Situation direkt sagen, was er meint oder denkt – unser soziales Zusammenleben endete in einer Katastrophe. Sie können’s ja mal ausprobieren…

Dr. Jens Kegel, Ghostwriter, Texter und Autor, arbeitet als Rede-Coach und Berater für „Verbale Unternehmenskommunikation“ in Berlin. In der von ihm gegründeten Akademie Text® gibt er seine Erfahrungen in Seminaren weiter, die genau auf die jeweiligen Zielgruppen ausgerichtet sind.