Einmal auf die Couch – bitte!

Die Wunderfrage ist ein alter Hut – aber Sie funktioniert noch heute. Jeder der mal beim Coach oder dem Psychodoc war, dem wurde sie gestellt. Streng genommen ist es nicht eine Frage sondern ein strukturierter Ablauf von Fragen. Doch diese haben es in sich und öffnen dir, wenn du sie geschickt anwendest, Tür und Tor.

Bei der ›Wunderfrage‹ handelt es sich nicht, wie ihr Name vermuten lässt, um eine einzelne Frage, sondern einen strukturierten Ablauf von Fragen beziehungsweise Fragegruppen. Die ›Wunderfrage‹ wird in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts von Steve de Shazer und seiner Frau entwickelt. Sie ist Teil ihres lösungsorientierten Kurzzeittherapiekonzepts. Die beiden erkennen, dass Sprache der Schlüssel für Veränderungsprozesse ist. Je mehr jemand darüber spricht, was er tun will, desto stärkerer Veränderungswille entsteht. Denkt und äußert er sich jedoch über den gegenwärtigen Problemzustand, sinkt sein Antrieb, eigenständig Veränderungen anzustreben. Steve de Shazer formuliert dies so: »Problemsprache schafft Probleme. Lösungssprache schafft Lösungen.« Beziehungsweise: »Das Problem und die Lösung haben nichts miteinander zu tun.« Wenn dein Gesprächspartner mit Problemen hadert, befindet er sich in einer Art Starre. Er konzentriert sich hauptsächlich auf den negativen Zustand. Er glaubt nicht daran, das Problem lösen zu können und fühlt sich in verschiedenster Hinsicht ausgeliefert. Genau hier setzt die ›Wunderfrage‹ an. Sie hilft deinem Gegenüber durch die Entwicklung von Zukunftsszenarien neue Lösungsansätze und die hierfür notwendige Umsetzungsenergie zu entwickeln.

Aber Vorsicht! In einem therapeutischen Gespräch oder einem Einzel-Coaching erwartet dein Gesprächspartner strukturiertes Fragen von deiner Seite. In der angewandten Kommunikation – also im alltäglichen Leben – ist die Chance allerdings groß, dass der andere schnell misstrauisch wird, wenn du ihm das Gefühl vermittelst, fertige Frageabläufe zu benutzen. Das bedeutet für dich: Mache dich mit der Gesamttechnik als solche vertraut. Gebrauche sie dann aber stets flexibel, kreativ und vor allem unauffällig!

Der Ablauf einer kompletten »Wunderfrage«-Anwendung kann wie folgt dargestellt werden.

  1. Ziel/Wunder definieren
  2. Skalierung
  3. ›Wunderfrage‹
  4. Selbstwahrnehmung
  5. Fremdwahrnehmung
  6. Ausnahmen erfragen
  7. Eigenverantwortliche Lösungen
  8. Verstärkung und Umsetzung

Betrachten wir nun, anhand eines verkürzt dargestellten Beratungsgesprächs, gemeinsam die einzelnen Bausteine im Detail. Nehmen wir folgendes Szenario an: Herr Hessl, ein Manager, befindet sich in einem Einzel-Coaching. Sein Problem besteht darin, dass er vor und bei dem alle zwei Wochen stattfindenden Vorstandsmeeting immer extrem nervös ist. Darunter leiden er, sein Auftreten und nicht zuletzt auch seine Familie. Übermorgen ist das nächste Vorstandsmeeting angesetzt.

1. Ziel/Wunder definieren

Das Ziel beziehungweise das Wunder besteht darin, dass Herr Hessl frei von Nervosität ist – sowohl vor als auch während der Meetings. Er ist vollkommen entspannt und gelassen.

2. Skalierung

Coach: »Herr Hessl, auf einer Skala von 1 bis 10 steht die 10 für Ihr Ziel. Sie sind an den Tagen vor den Meetings komplett entspannt und gelassen. Die 0 hingegen steht für das komplette Gegenteil: Die größte innerliche Aufregung und Nervosität, die Sie je empfunden haben. Bitte sagen Sie mir, Herr Hessl, wo stehen Sie im Moment?«

Hessl: »Hm, ich würde sagen auf der 3.«

Skalierungsfragen bieten viele Vorteile. Zuallererst erlauben sie deinem Gesprächspartner eine schnelle Antwort. Er bewertet sowohl den 10er-Zustand, den 0er Zustand als auch seinen derzeitigen Zustand selbst. Kein mühsames Erklären, was welchen Zustand ausmacht. Braucht es nicht! Kann dir egal sein! Dein Gegenüber hat alles damit Verbundene im Kopf. Du brauchst die Details dazu nicht zu wissen. So sparst du Zeit und vermeidest langwierige Erklärungen und Diskussionen darüber, wie etwas ist oder wie etwas sein soll. Zusätzlich zwingen solche Fragen deinen Gesprächspartner mit absoluten Bewertungen aufzuhören: Kein Gut oder Schlecht, kein Schwarz oder Weiß (deswegen werden solche Fragen auch gerne von Ärzten und Schmerztherapeuten verwendet). Und zu guter Letzt erlaubt dieses Vorgehen auch kleine Erfolge sichtbar zu machen oder zu planen (»Wie ist es Ihnen gelungen, auf die 3 zu kommen?«, »Was muss passieren, damit Sie von der 3 auf eine 4 kommen?«).

3. ›Wunderfrage‹

Coach: »Okay, Herr Hessl, ich habe jetzt für Sie eine ganz spezielle, etwas ungewöhnliche Frage. Stellen Sie sich einfach einmal Folgendes vor: Sie gehen heute am Abend nach Hause. Sie schlafen irgendwann ein und über Nacht passiert ein Wunder. Sie wachen auf und das von Ihnen gewünschte Ziel, die 10, ist eingetreten. Sie haben keine Ahnung warum. Es ist einfach passiert, während Sie geschlafen haben. Woran erkennen Sie in diesem Moment als Erstes, dass das Wunder passiert ist?«

Hessl: »Ähm, keine Ahnung! Ich weiß es nicht.«

Coach: »Ja, das ist eine besondere Frage. Aber alles ist möglich! Stellen Sie es sich einfach mit allen Sinnen vor. Woran bemerken Sie, dass Ihre Probleme gelöst sind und das Wunder über Nacht stattgefunden hat?«

Hessl: »Pfffff! Mhh, gut. Ich fühle mich entspannt – so als ob ein großer Stein von meiner Seele gefallen ist.«

Die Wunderfrage lautet im Kern: »Stellen Sie sich vor, heute Nacht passiert ein Wunder und wenn Sie aufwachen, ist Ihr Problem gelöst. Woran merken Sie das am Morgen?« Durch diese Frage erstellst du ein Zukunftsszenario. Der Fokus deines Gesprächspartners verschiebt sich vom Problem zur Lösung. Das Herausarbeiten einer fiktiven Idealsituation in der Zukunft, auch wenn diese nur in seiner Vorstellung existiert, erlaubt deinem Gegenüber neue Denkansätze zu entwickeln. Das Erreichen des Ziels wird unbewusst in den Bereich des Möglichen gerückt.

4. Selbstwahrnehmung

Coach: »Woran merken Sie noch, dass das Wunder passiert ist?«

Hessl: »Ich bin gut gelaunt.«

Coach: »Was noch?«

Hessl: »Ich bin weniger angespannt.«

Coach: »Gibt es auch eine körperliche Veränderung?«

Hessl: »Hm, mein Kopfweh ist verschwunden und mein Magen gibt Ruhe. Ich brauche keine Tabletten für den Magen.«

Coach: »Sonst noch etwas, was Sie an dem Tag anders machen?«

Hessl: »Tja, ich bin sicher umgänglicher zu meiner Frau und meinen Kindern. Ich habe wieder mehr Zeit für sie am Abend und bin einfach gelöster. Ich schlafe sicher auch besser ein. Vielleicht lese ich auch noch ein Buch, bevor ich einschlafe. Das habe ich sonst die letzten Tage vor den Meetings nie gemacht.«

In dieser Phase verstärkst du das Bild und die damit verbundenen Vorstellungen und Gefühle. Dein Gesprächspartner versetzt sich immer stärker in die positive neue Situation und entwickelt in seinem Kopf neue positive Filme.

5. Fremdwahrnehmung

Coach: »Herr Hessl, wer würde all das bemerken?«

Hessl: »Meine Familie und meine Kollegen bei der Arbeit.«

Coach: »Wer als erstes?«

Hessl: »Meine Frau.«

Coach: »Woran?«

Hessl: »Ich bin freundlich in der Früh und nicht wegen jeder Kleinigkeit genervt.«

Coach: »Wenn ich Ihre Frau frage, was fällt ihr wohl noch auf?«

Hessl: »Hm, ich bin beim Frühstück umgänglicher und habe am Abend wieder die Nerven dazu, auf die Fragen und Wünsche meiner Kinder einzugehen.«

Coach: »Was für Wünsche?«

Hessl: »Ach, zum Beispiel der Großen bei Mathematik zu helfen oder mit dem Kleinen ein wenig zu spielen.«

Coach: »Wie fühlt sich das an?«

Hessl: »Gut!«

Jetzt erkundest du, was sich in der Außenwelt deines Gesprächpartners zum Positiven verändert. Das Zukunftsszenario wird für ihn noch greifbarer und wirklicher. Zusätzliche positive Emotionen entstehen.

6. Ausnahmen erfragen

Coach: »Herr Hessl, gab es einmal eine Zeit, in der Sie sich in einer vergleichbaren Situation ähnlich gut gefühlt haben wie am Tag nach dem Wunder?«

Hessl: »Hm, nein. Eigentlich nicht.«

Coach: »Ganz sicher?«

Hessl: »Naja, doch. Vor rund einem Jahr einmal. Da habe ich mit dem Gedanken gespielt, ein Angebot einer anderen Firma anzunehmen. Da war mir das Meeting dann egal.«

Coach: »Und wie war das Meeting?«

Hessl: »Gut! War wahrscheinlich eine meiner besten Präsentationen.«

Coach: »Gab es neben diesem einen Mal auch Zeitpunkte, wo Sie zwar nicht auf einer 10 waren, aber höher als auf der 3?«

Hessl: »Mhh, ja schon. Also hin und wieder eine 4 oder 5. Und ja, einmal auch auf einer 8.«

Coach: »Wie war das?«

Hessl: »Das hat sich auch gut angefühlt.«

Kein Problemzustand tritt immer und beständig ein. Durch das Fragen nach Ausnahmen zeigst du deinem Gesprächspartner auf, dass er bereits in der Lage war, Verbesserungen herbeizuführen. Hierdurch steigt sein Glaube daran, dass das endgültige Ziel erreichbar beziehungsweise der derzeitige Zustand schrittweise verbesserbar ist.

7. Eigenverantwortliche Lösungen

Coach: »Als Sie auf der 8 waren, was haben Sie da anders gemacht?«

Hessl: »Na ja, eigentlich das, was mir gerade sowieso klar wird. Ich hab mir einfach gesagt, dass das Ganze die Aufregung nicht wert ist.«

Coach: »Was noch?«

Hessl: »Ich habe die Präsentation nicht noch einmal angeschaut an den beiden Abenden zuvor.«

Coach: »Okay! Es ist jetzt wieder morgen und das Wunder ist passiert. Was haben Sie heute noch anders gemacht, damit Sie sich morgen auf der 10 befinden? Komplett entspannt und locker!«

Hessl: »Hm, tja. Mal nachdenken! Was habe ich wohl heute anders gemacht? Also, wie gesagt, zuerst hab ich mir heute mehrmals klargemacht, dass das Meeting übermorgen nicht so wichtig ist. Was soll auch schon groß passieren! Es ist mir egal, was der Reimann wieder für dumme Fragen stellt. Der kann mich mal, der Reimann! Okay, was noch? Zuhause hab ich die Arbeit Arbeit sein lassen und mit meiner Frau einen Film angeschaut. Vielleicht auch eine Serie auf DVD. Monk zum Beispiel – den mögen wir beide, wissen Sie. Und dann bin ich schon um zehn schlafen gegangen.«

Coach: »Was noch?«

Hessl: »Vielleicht habe ich auch noch einen schnellen Blick in die Internet-Jobbörsen geworfen. Nur so aus Interesse. Im Bett am Laptop.«

An dieser Stelle folgt der entscheidende Übergang zu konkreten selbstgesteuerten Lösungsansätzen. Dein Gesprächspartner entwickelt und visualisiert eigenverantwortliche Möglichkeiten, seine Wirklichkeit zu verändern. An dieser Stelle ist es sehr wichtig, dass du ausschließlich solche Lösungsansätze zulässt, die er eigenständig durchführen kann.

8. Verstärkung und Umsetzung

Coach: »Gut, Herr Hessl. Auf der gleichen Skala wie bisher, wo die 10 für komplette Entspannung und die 3 für den von Ihnen am Anfang des Gesprächs ausgedrückten Gefühlszustand steht: Wo stehen Sie jetzt, in diesem Moment?«

Hessl: »Hm, ja das klingt jetzt vielleicht etwas verrückt. Aber ich würde sagen auf der 5.«

Coach: »Sehr gut! Sie sind bereits auf dem Weg! Lassen Sie uns nun zum Abschluss weiter über das Hier und Jetzt reden. Was werden Sie heute und morgen tun, damit Sie weiter Richtung 10 kommen?«

Hessl: »Ich mache einfach genau das, was ich vorher schon gesagt habe. Und ich rufe gleich meine Frau an, dass sie die DVD raussucht.«

Coach: »Wunderbar. Herr Hessl! Ein letzter Vorschlag noch von meiner Seite. Stellen Sie sich doch zusätzlich einfach ab sofort jeden Tag vor, dass das Wunder schon passiert ist und verhalten Sie sich dementsprechend.«

Hessl: »Hm ja, ich denke schon, dass ich das versuchen kann. Wobei … ich weiß nicht, ob das immer so einfach geht.«

Coach: »Fester Glauben unterstützt immer! Machen Sie es einfach! Und wenn Sie einmal unsicher sind, ob Sie das wollen, dann gebe ich Ihnen etwas mit. Diesen Würfel. Werfen Sie ihn an einem solchen Abend. Wenn Sie eine gerade Zahl werfen, verhalten Sie sich am nächsten Tag so, als ob das Wunder in der Nacht passiert ist. Bei einer ungeraden Zahl entscheiden Sie am Morgen selbst, ob sie das wollen. Hört sich das gut an?«

Hessl: »Ja, warum nicht. So machen wir es!«

Bei der Verstärkung machst du deinem Gesprächspartner klar, dass schon durch das Vorstellen des Zielzustands und das Überlegen eigenverantwortlicher Strategien und Handlungsweisen eine Verbesserung eingetreten ist. Anschließend fixierst du mit ihm den verbindlichen Einsatz der von ihm entwickelten, neuen Verhaltensweisen und bestärkst ihn darin, sich weiterhin selbstständig das Wunder vorzustellen.

Anwendung in der Praxis

Du kannst und sollst die »Wunderfrage«, je nach Situation und Zielen, verändern und anpassen. Dabei lässt du Teile weg oder fügst auch neue dazu. Halte dich nicht an starre Anleitungen, sondern experimentiere eigenständig und frei!

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