Zukunft ist wie Blindflug mit offenen Augen

Wir treffen in der Gegenwart eine Entscheidung und die bestimmt, wohin die Reise in Zukunft geht. Nun sind in der Gegenwart zu jeder Situation verschiedene Entscheidungen möglich. Hätte ich mich vor vielen Jahren nicht für das Physikstudium entschieden, sondern beispielsweise für Architektur oder Politikwissenschaften, wäre mein aus damaliger Sicht zukünftiges Leben anders verlaufen, als es das ist. Ich hätte also eine andere Zukunft erlebt, als ich sie tatsächlich erlebt habe. Das heißt, zu jedem Zeitpunkt jeder Gegenwart sind verschiedene Zukünfte möglich. Mit unseren Entscheidungen, zumindest mit einigen wichtigen, bestimmen wir, welche der möglichen Zukünfte eintreten wird. Einfach!

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So einfach funktioniert es aber in der Wirklichkeit nicht, denn unsere Entscheidungen treffen auf Bedingungen und auf Einflüsse Dritter, die die Reise in die Zukunft bereits im Moment ihres Werdens beeinflussen. Manche der Bedingungen können wir gestalten, andere nicht. Manche Interventionen und Reaktionen anderer Menschen können wir voraussehen, andere nicht. Das alles relativiert schon einmal die Wirkungen unserer Entscheidungen auf die Gestaltung der Zukunft. Es kann passieren, dass unsere Entscheidungen abgeschwächt, bedeutungslos oder gar ins Gegenteil verkehrt werden. Es kann aber auch sein, dass sich die Auswirkungen unserer Entscheidungen in ungeahnter Weise verstärken.

Zukunft entfaltet sich in der Zeit, nachdem wir unsere Entscheidungen getroffen haben. Aber eben nicht gleichlaufend in die einmal eingeschlagene Richtung. Mit unserer Entscheidung geben wir bestenfalls einen Richtungsimpuls für die Entfaltung der Zukunft. Die tatsächliche Entwicklung hängt dagegen von unüberschaubar vielen Bedingungen und Ereignissen ab.

Wenn das so ist, relativiert das die Bedeutung unserer Entscheidungen für die Zukunft. Wir glauben oft, dass wir mit unseren Entscheidungen den Lauf der Welt bestimmen und tun uns deshalb schwer, sie tatsächlich und schnell zu treffen. Wenn wir verstehen, wie Zukunft funktioniert, die nämlich unmittelbar nach unserer Entscheidung beginnt, sich auf ihre eigene Weise und von uns nicht mehr wirklich kontrollierbar zu entfalten, dann geht es nicht mehr primär darum, unbedingt die „richtige“ Entscheidung zu treffen. Es geht viel mehr darum, die weitere Entwicklung, also die Entstehung der Zukunft zu beobachten. Dadurch können wir – zumindest teilweise und in gewissem Umfange – in die Entstehung der Zukunft eingreifen und bleiben handlungsfähig. 

Zukunft hat viele Gesichter

Zukunft ist naturgemäß vielfältiger als die Gegenwart, und erst recht als die Vergangenheit. Zukunft entfaltet sich aus den Ereignissen (und Entscheidungen) der Gegenwart. Aus jedem Zustand in der Gegenwart entsteht mindestens ein Zustand in der Zukunft, meist sogar mehrere. Physikalisch gesprochen: In Richtung Zukunft wächst die Entropie des Systems der Wirklichkeit, eine Umkehrung ist nicht möglich. Wir brauchen uns also nicht zu verwundern, wenn die Zeiten hektischer und die Ereignisse unübersichtlicher werden. Die Zukunft wird niemals ruhiger und überschaubarer sein als Vergangenheit und Gegenwart. Das ist nicht menschengemacht, sondern liegt in der Natur der Sache.

Die Allgemeine Relativitätstheorie bietet uns noch weitere Möglichkeiten für das Verstehen von Zukunft an. Danach beinhaltet die Zukunft alle möglichen Wirklichkeiten. Je nach dem Pfad, dem wir in die Zukunft folgen, erleben wir eine andere Wirklichkeit. Abhängig von unseren Entscheidungen (und den vielen anderen Einflussgrößen, die ich vorn angesprochen habe) werden wir in der Zukunft eine bestimmte Wirklichkeit als real erleben, die neben allen anderen, die wir nicht erleben, existiert. 

Das klingt – zugegeben – ein bisschen abgehoben und man fragt sich, was wir mit einem solchen Ansatz eigentlich anfangen sollen. Für mich als Einzelnen heißt das zum Beispiel, dass ich mir keine Gedanken darüber machen muss, wie ich die Zukunft gestalten kann oder soll. Erstens ist sie ja noch nicht da, und zweitens weiß ich ja überhaupt nicht, in welche Zukunft ich da eines Tages hineingeraten werde. Ich habe also keinerlei Einfluss auf Zukunft. Aber ich habe Einfluss darauf, wie ich selbst sein werde, wenn ich denn in die Zukunft eintreten werde. Dafür kann ich bereits in der Gegenwart einiges tun – weiter unten gebe ich dazu noch ein paar Anregungen.

Hier noch ein anderes Beispiel für mögliche Konsequenzen aus diesen Überlegungen: Wir entscheiden heute nicht darüber, ob sich das Klima auf der Welt dramatisch zum Schlechten verändern wird, denn das hängt von vielen Umständen und Ereignissen jenseits unserer Entscheidungen ab, sondern lediglich darüber, ob und wie wir eine solche Wirklichkeit erleben werden. Dieser Blickwinkel könnte uns dazu bringen, in unsere Überlegungen zum Klimawandel auch andere wichtige Entwicklungen, wie Ernährung, Gesundheit, Bildung und Konfliktaustragung im Blick zu behalten. Auch bei diesen Fragen geht es um Zukunft. Wir müssen also heute die Entscheidungen treffen, die uns in eine zukünftige Wirklichkeit führen, in der all diese verschiedenen Aspekte in möglichst guter Weise entwickelt sind. Wenn wir die damit verbundenen Probleme gut lösen, wird uns das helfen, auch ein wie immer in der Zukunft geartetes Klima gut zu verkraften.

Umgang mit Zukunft

Wir haben im Prinzip drei Möglichkeiten, uns der Zukunft zu stellen. Die erste besteht im Laissez-faire, weil die Zukunft sich ja sowieso entwickelt, unabhängig von unserem Zutun. Wir könnten sie also einfach laufen lassen, weil sie sowieso passiert, wie sie passiert. Einerseits erfordert diese Herangehensweise an die Zukunft den geringsten Energieaufwand und ist deshalb für manche Menschen durchaus interessant. Nicht nur Aussteiger, Bohemiens und kulturelle Traditionen des Orients folgen diesem Weg – mehr oder weniger. Andererseits widerstrebt die damit verbundene Passivität der grundlegenden Lebenseinstellung vieler Menschen, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tragen. 

Die zweite Möglichkeit ist das Normativ. Wir erschaffen eine Welt von Vorgaben und Regeln, mit denen wir versuchen, die Entwicklung der Zukunft einzuhegen, sie zu bestimmen. Diese Vorgehensweise ist verführerisch, denn sie nährt unsere Vorstellung von der Beherrschbarkeit der Welt, des Lebens und eben auch der Zukunft. Wenn wir nur genügend gute und wirkungsvolle Regeln machen, dann wird die Zukunft ihnen schon folgen. Diese Herangehensweise liegt vielen Managementstrategien und auch politischen Denkrichtungen zugrunde. Das Dumme ist nur: Die Wirklichkeit entfernt sich mit der Zeit immer weiter von unseren Vorgaben. Es entsteht eine Zukunft, die mit unseren Vorstellungen oft nicht viel zu tun hat. 

Die dritte Möglichkeit nenne ich das Kognitiv. Wir entwickeln Vorstellungen, Hypothesen und Theorien über Muster, Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, nach denen Wirklichkeit funktioniert. Wenn wir diese auf Zukunft anwenden, ergeben sich keine stringenten, determinierten Entwicklungen, sondern Optionen und Möglichkeiten, wie sich Zukünfte – hier werden es dann schnell mehrere – entwickeln könnten. Im „Nahbereich“ werden wir damit ziemlich eng an dem liegen, was dann wirklich eintritt. Mit größerer Entfernung vom Jetzt weitet sich das Feld möglicher Varianten von Zukunft. „Feld“ ist hierfür ein spannender Begriff, denn damit lösen wir uns von der Vorstellung einer einzigen Zukunft oder auch mehrerer bestimmter Zukünfte. Zukunft spielt sich dann viel mehr im Dazwischen ab, im Ungefähren dessen, was wir uns vorgestellt haben.

Handeln vor der Zukunft

Wenn man es recht bedenkt, haben wir weniger Einfluss auf die Zukunft, als uns lieb wäre. Trotzdem können wir eine Menge tun, wenn wir einen anderen Betrachtungswinkel als den einer direkten Einflussnahme auf die Zukunft erlauben. Ich mache dazu einen Vorschlag:

Anstatt zu überlegen, wie wir die Zukunft gestalten sollen, könnten wir darüber nachdenken, wie wir selbst in eine Zukunft eintauchen wollen, die wir weder gestalten noch voraussagen können. Mit diesem Ansatz fokussiere ich auf die Sache, die ich wirklich beeinflussen kann, nämlich auf mich selbst. Hierfür lohnt sich Einsatz, nicht für Ereignisse, die eventuell kommen werden oder auch nicht.

Was kann man also tun? Hier mal drei Anregungen, um in der von mir vorgeschlagenen Richtung weiter zu denken:

  1. Mit dem Wissen um Muster, Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten können wir Szenarien für mögliche Entwicklungen denken. Aber wir sollten nicht zu lange darüber nachgrübeln und uns nicht in Details verlieren. Ich empfehle hier immer den Grundsatz: Zukunft soll man planen, aber nicht daran glauben! Es geht bei diesen Szenarien eigentlich nur um die Frage, wie ich selbst (und natürlich meine Kinder, meine Mitarbeiter oder für wen auch immer ich Verantwortung zu tragen glaube) mich verändern, entwickeln muss, um diesen möglichen Szenarien entsprechen zu können, ihnen gewachsen zu sein. Was muss ich lernen? Wovon muss ich mich trennen? Welche Verbündete brauche ich? Welche Bedingungen kann ich schaffen, um mich so zu entwickeln?
  2. Meine zukunftsgerichteten Entscheidungen sollten nicht zu weit in die Zukunft ragen. Kurze Schritte sind sicherer und können im Bedarfsfalle leichter korrigiert werden. Weil ich immer nur vermuten kann, was als Nächstes kommt, dürfen meine Entscheidungen niemals endgültig sein, denn nichts ist alternativlos. Niemals! Was heute unmöglich erscheint, kann morgen die leichteste Sache von der Welt sein. Was heute gefährlich scheint, ist morgen vielleicht die einzige Rettung. Was heute sicher ist, kann morgen die größte Katastrophe bewirken. Die iterative Vorgehensweise, die ich dringend empfehle, verlangt jedoch eine ständige Überprüfung des Status quo. Ich brauche Sensoren, mit denen ich die Veränderungen der Systeme, außen wie innen, erfasse und verarbeite. So entstehen laufend neue Handlungsoptionen.
  3. Damit berühren wir ein Thema eigener Haltung. Wir brauchen diese Bereitschaft, alles, vor allem uns selbst, immer wieder in Frage zu stellen. Nicht zweifelnd, sondern als grundlegende Offenheit für Veränderung, Anpassung und Gestaltung. Nur darin liegt Zukunftssicherheit, nirgends sonst! Voraussetzung für diese Haltung ist Mut. Mut aus der Gewissheit, dass nur Offenheit für Entwicklungen, die wir nicht vorhersehen, ja mitunter noch nicht einmal denken können, uns die Sicherheit für ein erfolgreiches Eintauchen in das Zukunftsfeld gibt.

Wenn wir von diesen Anregungen ausgehend nachdenken, führt uns das zu vielen anderen Möglichkeiten, was wir heute tun können, uns auf Zukunft vorzubereiten, ohne zu wissen, wie sie konkret sein wird. Wir können zwar nicht die Zukunft ändern, aber uns selbst. Und das macht uns fit für Zukunft!

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